Systemorientierte Konzepte für den Naturschutz in der Kulturlandschaft – dargestellt an Beispielen aus den Niederlanden

Ergebnisse einer Studienreise des Naturschutzzentrums Hessen, des AK Naturschutz im LV Hessen des BUND und der NABU-Akademie Gut Sunder in die Niederlande (21. bis 27.5.2000)

- Überarbeitete Fassung vom 11.09.2000 -


Das Nationale Maßnahmenprogramm Naturschutz * Flächenankauf * Naturentwicklung Das System "freie Wildbahn" * Das "New Forest"-System * Erfahrungen mit Begrasungs- und Verbisssystemen * Umsetzung, Finanzierung, Evaluation


Einleitung

Auf die Fläche bezogen gehören die Niederlande mit rd. 4,15 Mio. ha zu den kleineren Staaten Westeuropas. Bezogen auf die Einwohnerzahl (15,5 Mio.) jedoch zu den am dichtesten besiedelten der Welt.

In diesem flächenarmen Land steht der ländliche Raum unter großem Druck. Er muss eine Wohn- und Erholungsfunktion wie auch eine Wirtschafts- und Verkehrsfunktion erfüllen. Es müssen aber auch wertvolle Naturräume und Kulturlandschaften für spätere Generationen erhalten bleiben. Die niederländische Naturschutzpolitik zielt darauf ab, hier einen Ausgleich zu schaffen.

Der Naturschutz in den Niederlanden erkannte bereits Ende der achtziger Jahre, dass seine bisherigen Instrumente (Ausweisung von Schutzgebieten, Artenhilfsprogramme u.a.), nicht mehr ausreichen würden, um die Biodiversität des Landes zu sichern. Seit 1950 nahmen rund 500 der mehr als 1400 heimischen Pflanzenarten in ihrem Bestand ab, über 40 starben aus. Gleichzeitig ging die Zahl der Brutvögel um ein Drittel zurück. Zahlreiche Lebensräume verschwanden oder wurden durch die zunehmende Fragmentierung negativ beeinträchtigt. Insgesamt schrumpfte das Areal der Natur- und Waldflächen in den letzten hundert Jahren von 900.000 auf ca. 450.000 ha.

Das Nationale Maßnahmenprogramm Naturschutz

Das Eingeständnis der eigenen Erfolglosigkeit veranlasste das niederländische Parlament 1990 zur Verabschiedung des „Natuurbeleidsplan" (Nationales Maßnahmenprogramm Naturschutz). Als Hauptziel verfolgt der NBP den Erhalt, die Wiederherstellung und Entwicklung von Natur und Landschaften. Mittlerweile liegt mit dem NBL21 (Natuur voor mensen, mensen voor natuur, natuur, bos en landschap in de 21e eeuw) eine aktualisierte Fortschreibung des "Natuurbeleidsplans" vor. Eine Zwischenbilanz der bisherigen Maßnahmen wurde in der Naturbilanz 2000 ("Naturbalans 2000") gezogen.

Die Hauptlinien des NBP wurden als Qualitätsziel „Biodiversiät und Natürlichkeit" im Handbuch der Naturzieltypen der Niederlande und in der ministeriellen Note „Ökosysteme der Niederlande" festgeschrieben. Die Einbindung in das Strukturschema „Groene Ruimte" gewährleistet die Berücksichtigung des NBP bei der Raumplanung.

Auf strategischem Niveau soll der NBP mit Hilfe der „Ecologische Hoofdstructuur" (EHS), dem nationalen Biotopverbundprogramm, auf 700.000 ha Land- und 7 Mio. Hektar Wasserfläche realisiert werden. Das Konzept zur Entwicklung der ökologischen Hauptstruktur gründet sich auf drei Schienen:

  • Schiene A: Natürliche Ökosysteme, deren Areale erweitert und durch dynamische Prozesse „gemanagt" werden

  • Schiene B: Naturnahe Fläche, auf denen intensive Bemühungen zum Erhalt der Artenvielfalt unternommen werden und traditionelle landwirtschaftliche Nutzungen bewahrt werden

  • Schiene C: Natur in anderen Gebieten (Verbesserung, Arealerweiterung, Vernetzung sowie Zusammenarbeit mit anderen (Freizeitunternehmen, Landwirte, Militärbehörden)

  • (Die Schiene D: umweltverträgliche Landnutzung wurde bislang vernachlässigt und wird es in jüngster Zeit mit mehr Aufmerksamkeit bedacht).

Im Zusammenhang mit der Realisierung des Nationalen Maßnahmenprogramm Naturschutz und des Konzepts zur Schaffung der Ökologischen Hauptstruktur verfolgt der niederländische Naturschutz Entwicklungs- und Managementansätze, die mittlerweile internationale Beachtung gebunden haben. Dazu zählen u.a.: der systematische Ankauf von Flächen, die Entwicklung „neuer Natur", die Implementierung von Begrasungs- und Verbisssystemen in Maßnahmen des Flächenmanagements sowie die konsequente Erfolgskontrolle der eingeleiteten Maßnahmen.

Flächenankauf

Der Flächenerwerb für Naturschutzwecke hat – nicht nur in den Niederlanden - eine lange Tradition. Die Tatsache, dass niederländische Naturschutzverbände oder der Staat Gebiete mit hohem Wert für den nationalen oder internationalen Arten- und Biotopschutz erwerben, um sie dadurch vor schädigenden Eingriffen zu schützen, würde daher zunächst einmal keine Besonderheit darstellen, gingen damit nicht Zielsetzungen einher, die von traditionellen Konzepten des Flächenkaufs deutlich abweichen.

Der Flächenkauf dient vor allem der Verwirklichung des Ökologischen Verbundsystems. Die Ankäufe erfolgen nicht nach „Marktlage", sondern unter strategischen Gesichtspunkten. Gekauft werden Naturflächen, Forsten und herrschaftliche Güter sowie Agrarflächen. Gegenwärtig gehören bereits 220.000 ha Naturgebiete der öffentlichen Hand (Staatsbosbeheer), weitere 131.000 ha befinden sich im Eigentum von Naturschutzverbänden. Das nationale Maßnahmeprogramm Naturschutz sieht bis 2018 insgesamt den Erwerb von zusätzlichen 190.000 ha vor.

Beim Flächenerwerb arbeitet das Naturschutzministerium bzw. Staatsbosbeheer mit den Verbänden wie Natuurmonumenten oder den provinzialen Landschappen Hand in Hand. Verbände oder Privatpersonen, die im Rahmen des Nationalen Maßnahmeplans Flächen für Naturschutzzwecke erwerben, erhalten staatliche Zuschüsse. Getreut dem Motto „Eigener Herd ist Goldes wert!" kauft insbesondere Natuurmonumenten ständig neue Flächen hinzu. Der Grundbesitz von zur Zeit rund 76.000 ha soll jährlich um rund 2.000 ha anwachsen. Die zum Flächenankauf benötigten Mittel werden in erster Linie über die Umweltlotterie und aus Steuergeldern aufgebracht.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass Privatpersonen, die ihren Grundbesitz nicht verkaufen, aber trotzdem für den Naturschutz zur Verfügung stellen wollen, staatliche Unterstützung erfahren können. Dabei kommt ein auf Natur- und Pflegezwecktypen basierendes Bewertungssystem zum Einsatz, über das die Höhe der finanziellen Vergütung ermittelt wird. Erklärt sich beispielsweise ein Landwirt bereit, auf seinen Flächen ein Auenrenaturierungsprojekt (höchste Bewertungsstufe) zu akzeptieren und die Flächen der natürlichen Flussdynamik auszusetzen, wird er über langfristige Verträge finanziell gefördert. Der Landwirt bleibt Eigentümer, das Areal steht aber in vollem Umfang für den Naturschutz zur Verfügung.

Flächenkulisse der EHS

1990 (Ist)

2018 (Soll)

Veränderung

Vorhandene Waldgebiete

270.000 ha

270.000 ha

+/- 0 ha

Vorhandene Naturgebiete (ohne Wald)

185.000 ha

185.000 ha

+/- 0 ha

Agrargebiete (ohne Wald)

55.000 ha

195.000 ha

+ 140.000 ha

Naturentwicklungsgebiete

0 ha

50.000 ha

+ 50.000 ha

Gesamt

510.000 ha

700.000 ha

+ 190.000 ha

Bemerkenswert ist, dass im Rahmen des Flächenankaufs nicht nur Gebiete erworben werden, die bereits einen hohen ökologischen Wert haben. Auch Gebiete mit geringer ökologischer Ausstattung werden erworben, wenn sie in die Gebietskulisse der ökologischen Hauptstruktur hineinpassen und zumindest über ein entwicklungsfähiges Potential verfügen. Beispielweise wurden im Millingerwaard flussnahe Maisäcker angekauft, damit sich auf den Flächen neue Binnendünen bzw. Weichholzauen entwickeln können.

Insgesamt sollen Flächen in einer Größenordung von rund 50.000 ha für Zwecke der Naturentwicklung angekauft werden. Weitere 27.000 ha werden zur Schaffung von Korridoren erworben.

Naturentwicklung

In den Naturentwicklungszonen soll sich Natur auf großer Fläche und unter geringem menschlichen Einfluss entwickeln können. Die Naturentwicklung will

  • einen Ausgangspunkt zur Verwirklichung "kompletterer" Ökosysteme setzen, in denen natürliche Prozesse die ausschlaggebende Rolle zur Bewahrung der autochthonen Ökosysteme der Niederlande spielen, z.B. Sanddünen und Flußauen,

  • die "ökologische Infrastruktur" innerhalb und zwischen naturnahen Gebieten und (innerhalb und zwischen) naturnahen Elementen der Kulturlandschaft verstärken,

  • den abiotischen Ausgangspunkt für Natur optimieren, mit (oder in Verbindung mit) verschiedenen Nutzungstypen der Kulturlandschaft, der nassen und trockenen Infrastrukturen, der Erholung und Waldgebieten.

Naturentwicklung bedeutet nicht, dass von Seiten des Naturschutzes keine Managementmaßnahmen zur Gebietsentwicklung unternommen werden müssen. Das Gegenteil ist der Fall: Man versucht, die in dem Gebiet ablaufenden Prozesse zu verstehen, sie mit Erfahrungen aus natürlichen Ökosystemen abzugleichen und auf dieser Grundlage Szenarien für die Weiterentwicklung zu erarbeiten. Dazu werden die limitierenden Faktoren identifiziert und auf Systemebene in Managementmaßnahmen übersetzt werden (z.B. Beziehungsgefüge zwischen Wasserhaushalt, Begrasung und zyklischer Vegetationsentwicklung). Sind die Rahmenbedingungen erst einmal festgelegt, so soll sich das System aus eigener Dynamik und (in hohem Maße) unabhängig von menschlichen Eingriffen fortentwickeln.

Die theoretische Grundlage für den Naturentwicklungsansatz legte die Doktorarbeit „Metaforen voor de wildernis. Eik, hazelaar, rund en paard" von Frans W.M. Vera. In seiner Studie entwickelte der Autor die Theorie des zyklischen Vegetationswechsels unter dem Einfluss großer Herbivoren. Die Hypothese unterstellt, dass nicht dichte geschlossene Laubwälder, sondern parkähnliche, offene Eichenwälder das Landschaftsbild des mitteleuropäischen Tieflandes bestimmten. Die dynamischen Prozesse in diesen Ökosystemen standen unter dem Einfluss großer Pflanzenfresser. Am Beispiel von Eiche und Hasel glaubt Vera nachweisen zu können, dass die natürliche Verjüngung der Waldbäume außerhalb des Waldes, im Schutz dorniger Sträucher stattfand. Nur innerhalb der Gebüsche konnten typische Waldbäume wie Eiche und Hasel aufwachsen, ohne von den verbreitet vorkommenden großen Herbivoren zerstört zu werden. Unter Umständen wuchsen sie zu Wäldern auf, die langsam unter dem Einfluss von Pflanzenfressern, Stürmen oder Dürren zu Grasländern degenerierten, um anschließend wieder zu Busch-Waldlandschaften zu werden. Verschiedene Biotope (Grasländer, Gebüsche, Wälder) existierten zwar in einem zeitlichen Kontinuum, aber im räumlichen Wechsel. Die von vegetationskundlicher und naturschutzfachlicher Seite mehrheitlich vertretene These, dass erst die landwirtschaftliche Nutzung neue Offenlandbiotope entstehen ließ, weist Vera als falsch zurück. Da die großen Pflanzenfresser ein wesentlicher Bestandteil der Theorie der "wandernden Biotope" sind, wird ihnen auch in dem von Vera maßgeblich mit beeinflussten Konzept zur Naturentwicklung eine Schlüsselrolle eingeräumt. Die Wiederansiedlung des Bibers oder die Begründung halbnatürlich lebender Herden von Paar- und Unpaarhufern stellt daher für den niederländischen Naturschutz ein allgemein akzeptiertes und mittlerweile unverzichtbares Element dar.

Der in den Niederlanden allgemein akzeptierte Ansatz zur Entwicklung „neuer Natur" wirkt auf deutsche Naturschützer zunächst etwas befremdlich. Es ist kaum vorstellbar, dass der deutsche Naturschutz Gebiete von untergeordnetem Naturschutzwert (z.B. Maisäcker, Bergbaufolgelandschaften, unkultivierte Steinbrüche) erwirbt, damit sich darauf neue Lebensräume entwickeln können. In den Niederlanden wird diese Herangehensweise sicherlich dadurch begünstigt, dass die Jahrzehnte des eher sorglosen Umgangs mit den biotischen Ressourcen nicht sehr viel schützenswerte Natur übrig ließen. Auf Flächen, die „seit Menschen Gedenken" der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung unterlagen, von der Tonindustrie ausgebeutet oder durch Infrastrukturmaßnahmen entwertet wurden, überlebte kaum eine Tier- oder Pflanzenart, um die es sich zwischen Artenschützern zu streiten lohnen würde.

Beeindruckend sind die Erfolge, die der Naturschutz innerhalb relativer kurzer Zeit mit der Strategie „Mother nature knows best" für sich verbuchen konnte. Während in Deutschland heftig um die letzten Vorkommen des Wachtelkönigs gerungen wurde, entstanden auf niederländischen Ackerflächen neue Wachtelkönig-Habitate. In den Oostvaardersplassen führte Nichtstun dazu, dass sich aus ehemaligem Meeresboden eines der bedeutsamsten mitteleuropäischen Brut- und Rastgebiete für Wasservögel entwickelte. Mehr als 130 Brutpaare des Löfflers (Platalea leucorodia), das Vorkommen der Rohrdommel (Botaurus stellaris) mit rund 50 Brutpaaren sowie die regelmäßige Überwinterung von Zwergsägern, Krick- und Spießenten sind Beleg für die mittlerweile internationale Bedeutung der Oostvaardersplassen als Feuchtgebiet. In 2000 siedelte sich zudem eine Brutkolonie des großen (10 Brutpaare) sowie des kleinen (6 Brutpaare) Silberreihers an.

Naturentwicklungsprojekte wie die Oostvardersplassen bringen, so ist zu hoffen, auch das von konservierenden und statischen Ansätzen bestimmte Theoriegebäude des deutschen Naturschutzes „ins Wanken". Auch der deutsche Naturschutz wird sich zukünftig, zum Beispiel bei der Realisierung eines eigenen nationalen Biotopverbundsystems, nicht damit begnügen dürfen, Natur ausschließlich dort zu schützen, wo sie noch in hinreichender Qualität und Quantität vorhanden ist. Die niederländischen Erfahrungen geben Mut, neue Wege zu beschreiten und zu versuchen, Gebiete für die Natur zurückzugewinnen. Dem Naturschutz würde sich damit endlich die Chance eröffnen, um aus der Defensive in die Offensive zu gehen.

Begrasungs- und Verbisssysteme

Eine wichtige Rolle für das Verständnis des Managements von Naturentwicklungsgebieten spielen Schlüsselarten. Von ihrer An- oder Abwesenheit gehen starke Wirkungen auf den Rest der Lebensgemeinschaft aus. In vielen terrestrischen Lebensräumen wirken große Pflanzenfresser als „keystone species". Ihre An- oder Abwesenheit entscheidet darüber, welche Entwicklung die Vegetation des Gebiets nehmen wird. Fehlen sie, so steht am Ende der Naturentwicklung in aller Regel ein geschlossener Wald als Klimaxstadium. Sind sie hingegen anwesend, so bilden sich offene, fast parkartige Landschaften aus. Es entstehen in Zeit und Raum wandernde Wald- und Offenlandhabitate.

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Vegetationsveränderungen bei mechanischem Flächenmanagament (modellhaft)

Vegetationsveränderungen bei Begrasung durch ein System der freien Wildbahn (modellhaft)

(Abb.: Hans Kampf, Expertisecentrum Landbouw, Natuurbeheer en Visserij, Wageningen)

Die Re-Implementierung weitgehend naturidentischer Begrasungs- und Verbisssysteme gehört zwar zu den unverzichtbaren Elementen der großräumigen Naturentwicklung, konnte aber aus verschiedenen Gründen (Akzeptanz der Bevölkerung, Tierseuchenhygiene u.a.) bislang in keinem der Gebiete in vollem Umfang verwirklicht werden. Die mittlerweile mehr als zwanzigjährigen Erfahrungen mit Begrasung und Verbiss lassen aber auch keinen Zweifel daran, dass die ökosystemorientierten Ansätze zielführend sind, sofern sie auf Flächen von mehreren tausend Hektar Größe angewandt werden.

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Verschiedene Arten großen Pflanzenfresser (Abb.: Hans Kampf, IKCN)

Die Entscheidung, ob in einem Gebiet Begrasung und Verbiss zugelassen werden soll oder nicht, hängt von den jeweiligen Naturschutzzielen ab. Dafür sind wiederum mehrere Faktoren bestimmend: das Klima und andere Bedingungen wie die Gebietsgröße, die Vegetation und die abiotischen Elemente. Eine wichtige Rolle spielen ferner die Kosten.

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Ökologische Nischen verschiedener großer Herbivoren (Abb.: Schulte, verändert nach HOFMANN 1987)

Verschiedene Optionen gibt es auch hinsichtlich des Ausmaßes des menschlichen Einflusses. Unter diesem Gesichtspunkt sind u.a. folgende Systeme zu unterscheiden:

  • das System der freien Wildbahn, bei dem „wilde" (herrenlose) Tiere eingesetzt werden, die sich in Zeit und Raum frei in dem Gebiet bewegen können. Auf die Zufütterung der Tiere wird auch in „Notzeiten" verzichtet. Die Populationen werden nicht reguliert. Tierkadaver bleiben unangetastet und gehen in den Naturkreislauf ein. Mit dem System der freien Wildbahn werden keine landwirtschaftlichen Ziele verfolgt. Erforderlich ist je nach Ökosystemtyp eine Gebietsgröße von > 2.500 bis 15.000 ha.

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Das System der freien Wildbahn
(Abb.: Hans Kampf, Expertisecentrum Landbouw, Natuurbeheer en Visserij, Wageningen)

  • das System des südenglischen New Forest. Auch hier können die Tiere frei durch eine Art Wildnis umherziehen. Es gibt aber ein individuelles oder gemeinsames Eigentum. Das bedeutet jedoch keine Aufteilung in kleinere Herden. Zur Regulierung der Population werden alljährlich im Herbst überzählige Tiere entnommen, an andere Projekte abgegeben oder kommerziell vermarktet. Das New Forest-Konzept setzt eine Flächengröße von 1.000 – 10.000 ha voraus.

  • das landwirtschaftliche System, bei dem jeder Besitzer seine eigenen Tiere auf umzäuntem Gelände hält und sich die Entnahme oder die Zufuhr von Tieren an den Bedürfnissen des Landwirts orientiert.

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Das landwirtschaftliche Beweidungssystem
(Abb.: Hans Kampf, Expertisecentrum Landbouw, Natuurbeheer en Visserij, Wageningen)

Das System „freie Wildbahn"

Das Naturentwicklungsgebiet Millingerwaard im Gelderse Poort

Entlang der großen niederländischen Flüsse Rhein, Maas, Waal und Ijssel verfolgt der staatlich getragene Plan "Schwarzstorch" das Ziel großflächiger Naturentwicklung. Gras- und Ackerflächen dominieren gegenwärtig noch die niederländischen Flussauenlandschaften. Naturnahe Weichholzauen mit u.a. Schwarzpappeln existieren bis auf wenige Relikte nicht mehr. Der einzige erhalten gebliebene niederländische Hartholzauenwald umfasst 10 ha und befindet sich in der Millingerwaard.

In der Millingerwaard wurde die Naturentwicklung im Jahre 1993 eingeleitet. Das rund 700 ha große und von Staatsbosheer und der Ark Stichting betreute Gebiet soll als Initiale für die Realisierung des großflächiges Konzept zur Wiederherstellung der natürlichen Flussdynamik zwischen dem Niederrhein und der Rheinmündung wirken.

Zur Schaffung der ökologischen Infrastrukturen erfolgte die Öffnung der Sommerdeiche und die Rückverlegung der landwirtschaftlichen Nutzung hinter die Winterdeiche. Die in den Deichbecken abgelagerten Tonsedimente, die nicht nur die Wasserspeicherkapazität der Auen beeinträchtigen, sondern in der Vergangenheit die regelmäßige Erhöhung der Deiche erforderlich machten, werden von der ortsansässigen Tonindustrie großflächig, aber flach abgegraben. Natürliche Prozesse wie Sedimentation, Erosion und Dünebildung werden wieder zugelassen.

Die der natürlichen Dynamik überlassenen ehemaligen Grünland- und Ackerflächen „managen" frei lebende Herden von Galloways und Koniks. Die Entwicklung der Auewaldrelikte und der sich neu ausbildenden Weichholzauen soll von Bibern „gesteuert" werden.

Die ausgesetzten Galloways lebten zunächst unter fast naturnahen Bedingungen (freie Orts- und Partnerwahl, keine Zu- oder Winterfütterung) und bildeten typische Sozialstrukturen aus. Die Begrasungsdichte betrug 1 Tier/ha. Veterinärmedizinische Probleme und Forderungen des Tierschutzes zwangen den Naturschutz vom ursprünglich verfolgten Begrasungsansatz (freie Wildbahn) Abstand zu nehmen und stärker als geplant in die Regulation der Herden einzugreifen.

Probleme bereitete auch die Entwicklung der ehemaligen Maisäcker. In den ersten Jahren der Brache bildeten sich flächendeckende Ackerdistelbestände aus. Nach rund fünf Jahren entwickelte sich der Distelbestand rückläufig und in den Lücken siedelten sich typische Pflanzen der Aue (z.B. Schwarzpappel) an.

Insgesamt können mittlerweile mehr als 350 Pflanzenarten festgestellt werden. Auch die Ansiedlung des bis dahin extrem seltenen Wachtelkönigs wird beobachtet. Da Arten- oder Biotopschutzgesichtspunkte im Konzept der Naturentwicklung nur eine untergeordnete Rolle spielen, sondern systemare Ansätze im Vordergrund stehen, ergeben sich in Einzelfällen Konflikte mit Vertretern des klassischen Artenschutzes. So entzündeten sich im Gelderse Poort kontroverse Diskussionen um die Uferschnepfe, die auf den Grünlandstandorten in der Vergangenheit günstige Habitatbedingungen vorfand, in Folge der Naturentwicklung aber im Bestand rückläufig ist.

Das Naturentwicklungsgebiet Oostvaardersplassen

Im Pilotgebiet Oostvaardersplassen in Flevoland praktiziert Staatsbosheer ein Begrasungs- und Verbisssystem, das weitgehend dem System der freien Wildbahn enstpricht. Hier wurden 1983, 1987 und 1989 als Ersatz für die ausgerotteten Auerochsen Heckrinder ausgesetzt. Die ersten Jahre waren schwierig, auch deshalb, weil für eine kleine Population Zwischenfälle verhältnismäßig große Folgen haben. Seit 1986 ist die Population jedoch ständig gewachsen. Sie verdoppelt sich etwa alle vier Jahre. 1999 lebten rund 500 Heckrinder im Gebiet.

Zusätzlich wurden Koniks als „Ersatzwildpferde" ausgesetzt. Es hat ungefähr sieben Jahre gedauert, bevor es zu einer schnellen Zunahme des Bestands kam. Zur Zeit rechnet man mit einem Bestand von fast 400 Tieren. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass sich die Bestandszunahme wegen Übervölkerung abschwächt.

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Die großen Herbivoren des Naturentwicklungsgebiets Oostvaardersplassen
(Photo: Schulte)

Keine Probleme gab es dagegen bei der Entwicklung der Rothirsche, deren erste Exemplare aus Schottland, den Niederlanden und Polen kamen und deren Bestand auf ebenfalls rund 400 Individuen kalkuliert wird.

Die Ansiedlung des Rehs war die Ansiedlung zunächst weniger erfolgreich. Die Population sank von ca. 200 auf unter 100 Tiere ab. Zur Zeit scheint die Population aber zu wachsen.

Im weiteren Sinne müssen auch die in das Gebiet eingewanderten Graugänse zu den Grasern gerechnet werden.

Die Pflanzerfresser verbessern die Lebensbedingungen für einander und für andere Arten, insbesondere auch für Vögel. Und das Gebiet Oostvaardersplassen ist vor allem auch ein Lebensraum für Vögel wie Schwäne, Gänse, Watvögel, Reiher und Greifvögel. Für solche Vögel ist eine niedrige Wiesenvegetation sehr geeignet. Übrigens weist die Ernährung von Rindern, Pferden und Hirschen Unterschiede auf, auch saisonal bedingte. Je nach Jahreszeit fressen die Tiere Gras, Brennesseln, Disteln, Wurzeln, Baumrinde und Schilf. So wird, abhängig von der endgültigen Individuenzahl und der Populationsdynamik, eine Art Parklandschaft entstehen: eine halboffene, steppenähnliche Wiesenlandschaft mit Gebüschen.

Natürlich ist das Managementsystem abgestimmt auf die besondere Standortbedingungen im Gebiet Oostvaardersplassen, einem nährstoffreichen Feuchtgebiet. Andere Ökosysteme werden ein anderes Konzept erfordern. Die Anforderungen der Gänse an ihre Umwelt sind ziemlich komplex. Vor allem brauchen sie einen Mauserplatz und ausreichend Wiesenfläche zum Äsen nach der Mauser. Während der Mauser leben sie in Schilfröhrichten, wo sie sich von den jungen, zucker- und energiereichen Schilfschößlingen oder Moorgreiskraut (Senecio palustris) ernähren. Die dadurch verursachten Fraßschäden stoppen die Verschilfung der Wasserflächen oder verringern sogar den Schilfbestand. Die Wasserzone und damit der Lebensraum für Wasservögel, Watvögel (Löffler!) und Fische ist von der spezifischen ökologischen Rolle der Gänse abhängig und damit letztendlich von der Zahl der großen Graser.

Das „New Forest"-System

Die Nationalparke Hoge Veluwe und Veluwezoom

Begrasungssysteme auf mineralarmen Heidestandorten wurden in den beiden privaten Veluwe-Nationalparken etabliert. Ziel der Beweidung ist es, (1) die Vergrasung der von Calluna und Erica dominierten Heideflächen mit Molinia zu verhindern und (2) den Aufwand für zusätzliche Managementmaßnahmen (Placken, Brennen, Mähen) zu reduzieren.

Auf dem rund 5000 ha großen Gebiet der Hoge Veluwe (privater Nationalpark im Eigentum der Kröller-Möller-Stiftung) kommen rund 250 Hirsche, ca. 250 Mufflons sowie etwa 200 Rehe zum Einsatz. Darüber hinaus kommen in dem umzäunten Park Wildschweine vor. Auch die Wald- und Heideflächen des im Eigentum von Natuurmonumenten stehenden Nationalparks Veluwezoom (ca. 3000 ha, ab 2001: ca. 6000 ha) sollen durch die Beweidung mit schottischen Hochlandrindern und Islandpferden freigehalten werden. Die Begrasungssysteme entsprechen gegenwärtig dem „New Forest"-Modell.

Die Rinder und Rothirsche bevorzugen Gräser als Nahrung. Die von ihnen verursachte punktuelle Überweidung zerstört die Vegetation. Auf den vegetationsfreien „Spots" siedeln sich die Heide- sowie ihre Begleitarten erneut an.

Die Mufflons unterstützen die Begrasungswirkung der großen Graser. Sie verbeißen die aufkommenden Gehölze und verhindern so die Wiederbewaldung der offenen Heiden.

Die Beweidung zeigt zwar gute Ergebnisse, gewährleistet die Offenhaltung der nährstoffarmen Standorte aber nicht. Ergänzende Managementmaßnahmen wie Plaggen (alle 10 Jahre) oder Brennen sind dauerhaft unverzichtbar.

Erfahrungen mit Begrasungs- und Verbisssystemen

Die Systeme „New Forest" und „Landwirtschaft" bieten sich für das extensive Vegetationsmanagement auf naturnahen und auf landwirtschaftlichen Flächen an. Das System der freien Wildbahn eignet sich hingegen nur in Dynamik-Schutzgebieten, die mindestens 700 ha groß sein müssen, damit die weitestgehende Selbstregulation der Populationen möglich ist.

Trotz der durchgängig positiven Erfahrungen mit der Re-Implementierung von Begrasungs- und Verbisssystemen zeigt sich, dass die großen Herbivoren nicht die „Wunderwaffe des Naturschutzes" sind und insbesondere die Begründung des Systems „freie Wildbahn" zum Teil erhebliche Probleme bereitet.

Auf nährstoffarmen Standorten wie Heiden vermag es selbst eine „Armada" aus Pflanzenfressern nicht, die Verbuschung der Gebiete zu verhindern. Unterstützende Maßnahmen (Plaggen, Brennen) sind weiterhin, allerdings in einer geringeren Intensität erforderlich. Auch dort, wo die Naturschutzziele mit einer herkömmlichen Heuwirtschaft zusammenhängen, wird das in Zukunft nur mit Hilfe von Mähmaschinen zu bewerkstelligen sein (Hans Kampf). Ihre Rolle als Gegenspieler der Vegetation vermögen die großen Herbivoren nur auf nährstoffreicheren Standorten in vollem Umfang auszuspielen.

Intensive, bis in das Parlament hineinreichende Diskussionen mit Tierschützern, Veterinärmedizinern und Landwirten sorgten in den Niederlanden dafür, dass gerade die Systeme „freie Wildbahn" in einer Reihe von Naturgebieten revidiert werden mussten. Kritik riefen u.a. der Verzicht auf Zufütterung und tierärztliche Kontrolle der Bestände sowie die Absicht, die Kadaver verendeter Tiere den Aasfressern zu überlassen, hervor. In Gebieten mit Besucheraufkommen mussten bei der Auswahl der Weidetiere Aspekte wie Friedfertigkeit und geringes Gefahrenpotential für Besucher in Betracht gezogen werden.

Mit der Einrichtung von Veterinärausschüssen für Naturräume, indem neben Naturmanagern unter anderem auch Vertreter der Landwirte, Tierärzte und Tierschützer sitzen, wird versucht, die Diskussionen auf die richtige Ebene zu bringen und den rechtlichen sowie öffentlichen Aspekten Rechnung zu tragen. Der auf nationaler Ebene tätige Ausschuss berät das Naturschutzministerium in Politik-, Management- und Forschungsfragen. Die lokalen Ausschüssen im Veluwezoom und in den Oostvaardersplassen beschäftigen sich hingegen stärker mit Aspekten der praktischen Umsetzung.

Umsetzung, Finanzierung und Evaluation

Der nationale Maßnahmenplan Naturschutz soll innerhalb von ca. 30 Jahren umgesetzt werden. Das niederländische Parlament wird in jährlichen Berichten über den Fortgang der Programms informiert. Alle acht Jahre soll zudem eine ausführliche Aufarbeitung der Zwischenergebnisse auf der Grundlage spezieller Monitoring- und Evaluationsmaßnahmen erfolgen.

Für den nationalen Maßnahmenplan Naturschutz stehen zusätzliche Mittel für Flächenankauf. Management und Einrichtungsmaßnahmen sowie Forschung und Evaluation zur Verfügung. Bereits 1990 waren im Etat des niederländischen Naturschutzministeriums zusätzliche 41 Millionen Gulden vorgesehen. Bis 1994 wurde der Betrag auf 155 Millionen Gulden aufgestockt. Zusätzliche Mittel für Flächenankäufe werden von den Naturschutzverbänden und insbesondere über die Postleitzahl-Lotterie aufgebracht. Zusätzlich stehen ab 2001 jährlich weitere 100 Mio. Gulden zur Verfügung. Über die Einbeziehung weiterer Mittel (z.B. Etat für ökonomische Strukturverstärkung) wird gegenwärtig intensiv diskutiert.

Die für Zwecke der ökologischen Hauptstruktur erworbenen Naturgebiete werden in Abständen von 8 bis 10 Jahren einer Erfolgskontrolle unterzogen. Das Controlling dient der Überprüfung der festgelegten Qualitätsziele. In Waldgebieten werden beispielsweise vier verschiedene Vogelgruppen als Kriterien herangezogen.

Ralf Schulte, NABU-Akademie Gut Sunder


Weiterführende Links zum Thema
  • Weiterführende Informationen zum Einsatz von Huftieren im Flächenmanagement liefert die Internetseite des niederländischen Naturschutzministeriums: www.minlnv.nl/grazers
  • Hans Kampf vom Expertisecentrum Landbouw, Natuurbeheer en Visserij, Wageningen stellte uns freundlicherweise die im Text verwendeten Abbildungen zur Verfügung. Darüber hinaus stand er uns bei der Abfassung des Berichts beratend zur Seite.  Auf seiner privaten Internetseite www.hans.kampf.org finden Sie neben weiterführenden Informationen auch zahlreiche Bilder aus den niederländischen Begrasungsprojekten.
    Unbedingt lesenswert ist auch die Internetpublikation: KAMPF, H. 2000: About Nature Policy, Large Ecosystems in a Small and Crowded Country and the Role Large Herbivores can Play: Challenges For Future! Internet-Veröffentlichung in: Landschaftsplanung.NET, Ausgabe 03/2000, ISSN 1439-9954, http://www.lapla-net.de/texte/03_00/kampf/kampf.shtml
  • Frans W.M. Veras "Metaforen voor de wildernis. Eik, hazelaar, rund en paard" sind als englische Übersetzung unter dem Titel "Grazing Ecology and Forest History" bei CABI Publishing (ISBN 0 85199 442 3, 528 pages, hardback) erschienen [zurück]

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Die Tagungsveranstaltung wurde vom Bundesamt für Naturschutz aus Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Die Veranstaltungsinhalte und -ergebnisse geben nicht unbedingt die Meinung des Bundesumweltministeriums, des Bundesamt für Naturschutz oder des Naturschutzbund Deutschland (NABU) wieder.