Die Bedeutung großer Pflanzenfresser für die Entwicklung naturnaher Landschaften

Ergebnisse eines Seminars der NABU-Akademie Gut Sunder vom 21.08. bis 23.08.1997


Die Suche nach der Naturlandschaft Die aktuellen Diskussionen zur Entwicklung von (Groß-) Schutzgebiete offenbaren selbst innerhalb des Naturschutzes erhebliche Zielkonflikte. Vielfach enden die Auseinandersetzungen darüber, ob Biotope und Landschaften mit hohem Energie-, Zeit- und Kostenaufwand gepflegt werden müssen oder ob sie besser der Selbstentwicklung überlassen werden sollten, in der Sackgasse scheinbar unlösbarer naturschützerischer Interessensgegensätze. Der Grund für die Auseinandersetzungen zwischen Sukzessions-Befürwortern einerseits und "Biotopmanagern" andererseits scheint in dem Umstand begründet zu sein, dass weder die Vertreter der einen noch der anderen Seite ein klares Bild davon zeichnen können, wie heute eine vermeintlich natürliche oder zumindest naturnahe mitteleuropäische Landschaft aussehen würde, hätte sie sich ohne Einfluss des Menschen weiterentwickeln können. Fände die Vielzahl der Offenlandarten in dieser Landschaft geeignete Habitate? Oder hieße es, von den vielen Tagfaltern, Heuschrecken oder Trockenrasenpflanzen Abschied zu nehmen, da sich ihr Vorkommen auf der anthropogenen Degradation der Waldlandschaft begründet? 

Bezugsgröße für naturschutzfachliche Entscheidungen ist vielfach die von TÜXEN entwickelte Theorie der potentiell natürlichen Vegetation. Sie stellt zur Zeit wohl eines der wichtigsten Leitbilder für die Zielsetzungen und damit die Pflege- und Entwicklungskonzepte des Naturschutzes dar. Dabei definiert sich die potentiell natürliche Vegetation als jene Vegetation, die heute vorhanden wäre, wenn der Mensch von der Bildoberfläche verschwände und man die pflanzliche Sukzession nach seinem Verschwinden in einer einzigen Momentaufnahme komprimieren würde. Die pnV gibt somit Auskunft über die aktuelle Kombination abiotischer Umweltfaktoren und ermöglicht deshalb Prognosen über die auf einer Fläche möglichen Biozönoseentwicklungen.  

Als Bilder dieser Momentaufnahme ergäben sich nach klassischer Lehrmeinung geschlossene sommergrüne Laubwälder. Flächen mit Lebensgemeinschaften des Offenlandes fänden sich demnach nur auf wenigen Sonderstandorten, wie Felsen oder in Teilen der Flussauen. Aber wo blieben dann die heute in der mitteleuropäischen Fauna und Flora durchaus zahlreichen Arten der offenen oder halboffenen Lebensräume? Sind sie als Einwanderer aus den asiatischen Steppengebieten Arten zweiter Klasse? Oder bedarf die Vorstellung von dichten, geschlossenen Waldlebensräumen mit einer kleinflächigen zyklischen Dynamik der Revision?  

Kritiker weisen darauf hin, daß die Entwicklung von Pflanzengesellschaften nicht nur von den unbelebten Bedingungen des Standortes und der zwischenartlichen Konkurrenz bestimmt wird, sondern daß auch Herbivoren einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Vegetation haben können ebenso wie die Vegetation andererseits Auswirkungen auf die Pflanzenfresser zeitigt. Die anhaltenden Diskussionen zum Thema Wald und Wild führen diese Wechselbeziehungen deutlich vor Augen. 

Zum besseren Verständnis der Problematik und für die vorgenannten Fragestellungen erscheint es hilfreich, ein Modell von der frühen mitteleuropäischen Naturlandschaft zu entwickeln und die Frage zu erörtern, ob Bedingungen denkbar sind, unter denen Arten des Offenlandes natürlicherweise gemeinsam mit denen des geschlossenen Waldes in Mitteleuropa vorkommen.  Landschaften im Wandel Das heutige Landschaftsbild wird von scharfen Gegensätzen zwischen offenen und geschlossenen Landschaften geprägt. Der strikte Waldrand als Grenzlinie zwischen Wald und Offenland ist nach Dr. Küster kein Charakteristikum der Ur-, sondern der neuzeitlichen Kulturlandschaft war. Die Naturlandschaften früherer Zeiten ließen sich nicht mit den Kriterien ,,Wald" und ,,Nicht-Wald" beschreiben. Scharfe Grenzen zwischen verschiedenen Lebensräumen existierten kaum. Das Aussehen der Landschaft bestimmten waldfreie Areale sowie solche mit zum Teil lichten, zum Teil dichten Wald. Fließende Übergänge nicht ,harte" Ränder prägten das sich in Zeit und Raum dynamisch entwickelte Mosaik unterschiedlicher Landschaftselemente. Die postglaziale Landschaft war jedoch keine weiträumig offene, steppenähnliche Landschaft obwohl hinreichend große Areale bestanden haben, die selbst Pflanzen der Steppe wie Sonnenröschen, Küchenschelle oder Federgras geeignete Existenzbedingungen geboten haben. 

Buchenwälder, die heute vielfach als die ,,natürliche" Vegetationsform angesehen werden, gehörten hingegen nicht zur Naturlandschaft zwischen Nordsee und Alpen. Sie breiteten sich erst aus, nachdem die frühen Ackerbauern begannen, den Wald zu roden. Buchenwälder sind daher erst als Folge kultureller Umgestaltungen der Landschaft zur ,,Natur" Mitteleuropas geworden. 

Ebensowenig haltbar wie die Vorstellung von der buchengeprägten Naturlandschaft ist nach neueren klimageschichtlichen Untersuchungen die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Klimageschichte und Wald- bzw. Landschaftsentwicklung. Auch andere Ursachen beEinflussten den Wandel des Waldes. 

Aus diesen Erkenntnissen heraus schlußfolgert Küster, daß sich Pflanzen in der Vergangenheit nicht immer in ihren potentiellen Arealen befunden haben. Es stellt sich daher für ihn die Frage, ob dies denn heute der Fall sei und ob sich die vorgeschichtliche oder die "potentielle Naturlandschaft" mit Begriffen wie ,,potentielle natürliche Vegetation" oder ,,Schlußwaldgesellschaft" zuverlässig beschreiben läßt.  Die Suche nach Referenzbildern für die Naturlandschaft Eine Retrospektive auf die mitteleuropäische Naturlandschaft muß nach Auffassung von Frau Dr. M. Bunzel-Drüke (Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz, Soest) im Quartär beginnen, da in dieser von Kalt- und Warmzeiten bestimmten geologischen Epoche bereits alle das heutige Landschaftsbild prägenden Bäume oder ganz nahe Verwandte von ihnen, vorkamen. Baumarten wie Tanne, Fichte, Kiefer, Erle, Birke, Haselnuß, Ulme, Linde, Weide, Eiche und Hainbuche, die heute natürliche Bestandteile mitteleuropäischer Wälder sind, breiteten sich, dem Wechsel zwischen Vereisung und eisfreien Perioden folgend, wiederkehrend zwischen den Glazialrefugien im Mittelmeerraum und dem mitteleuropäischen Raum aus. 

Während sich die Zusammensetzung der Baumarten im Laufe der Kalt- und Warmzeiten bis hin zum Holozän nicht wesentlich veränderte, ergaben sich dramatische Änderungen in der Megafauna. Arten wie das Mammut, das Wollnashorn, der Riesenhirsch oder der Steppenwisent, die über 70.000 Jahre zu den typischen Elemente der Landschaften Mitteleuropas gehörten, verschwanden zum Ende der Weichseleiszeit. Da große klimatische Veränderungen erst einige Jahrtausende nach dem Exodus der sehr großen Arten einsetzten, spricht nach Frau Dr. Bunzel-Drüke vieles für menschliche Ausrottungsursachen. 

Unter der Annahme, daß insbesondere die Pflanzenfresser der Megafauna einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Vegetation gehabt haben, ging der Landschaft mit der Ausrottung der Großherbivoren ein wichtiger Dynamikfaktor und den Pflanzen ein Opponent verloren. Dr. K.-M. Scheibe (Institut für Zoo- und Wildtierforschung, Berlin) charakterisierte am Beispiel rezenter Pflanzenfresser, daß der Einfluss der Herbivoren mit der monokausalen Feststellung ,,Tier frißt Pflanze" nur sehr unzureichend dargestellt ist. Neben der Verbißwirkungen resultieren mehr oder weniger selektive Einflussnahmen aus der Benutzung von Wechseln und Kotstellen dem Scharren und Wühlen oder auch aus dem Verwesen von Kadavern. Darüber hinaus variieren die Selektions- und strukturverändernden Einflüsse je nach Tierart und Pflanzenfressertyp (Konzentrat-Selektierer: Reh, Elch; Intermediär-Typ: Biber, Gemse, Rothirsch, Ziege, Alpensteinbock, Wildschwein, Ziege; Rauhfutter-Fresser: Wildpferd, Hausschaf, Hausrind, Auerochse). 

Aus der Ernährungsweise (z.B. Wiederkäuer, Nicht-Wiederkäuer) sowie dem Sozialverhalten (z.B. Herdentiere, Einzelgänger) der Herbivoren ergeben sich verschiedene Grundmuster der Lebensraum- und Vegetationsnutzung in Raum und Zeit (Beweidungssukzession). Beweidung oder Verbiß beeinflussen nicht nur die Struktur der Pflanzengesellschaften, sondern vermögen auch die Sukzession zu verlangsamen, sie zu stoppen oder sogar rückgängig zu machen. 

Das Bild eines vielfältig strukturierten Waldes mit mehr oder weniger offenen Bereichen unbekannter Ausdehnung erscheint vor diesem Hintergrund wesentlich realistischer als die Vorstellung einer Landschaft hohen Bewaldungsgrads. Dr. K. Menzel (Bundesforstamt Siebensteinhäuser, Bergen) schränkte jedoch am Beispiel seiner Beobachtungen auf dem Truppenübungsplatz Bergen ein, daß die Intensität der Einwirkungen beim Rothirsch von der Qualität der Waldstandorte beEinflusst wird. Auf nährstoffarmen Standorten ist eine nennenswerte Beeinflussung der Waldentwicklung nicht feststellbar. Das Rotwild schafft es nicht, die ,,steppenähnlichen" Äsungsflächen des Truppenübungsplatzes offen zu halten. Auf nährstoffreicheren und frischen Standorten stellt sich die Situation aber vollkommen anders dar. Hier sind nicht selten massive Beeinträchtigungen bis hin zum Totalverbiß der aufkommenden Naturverjüngung zu beobachten. Während die zum Teil mehrere Dutzend Individuen starken Hirschrudel die offenen Landschaftsteile bevorzugen und den geschlossenen Wald bei der Nahrungssuche meiden, dringen die Rehe auch in dichte Gehölzbestände vor. Als Konzentratselektierer verbeißen sie die Terminalknospen der Gehölze und beeinflussen auf diese Weise deren Entwicklung nachhaltig. Erst bei nachlassendem Verbiß oder reduzierter Beweidungsintensität schreiten das Gehölzwachstum und die Sukzession des Waldes wieder voran. 

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen Vegetation und Pflanzenfressern gibt nach Auffassung von R. Schulte (NABU-Akademie, Gut Sunder) der ehemals auch in Europa weit verbreitet vorkommende Biber. Mit dem Bau von Dämmen, der Überstauung von Waldflächen und dem Fällen von Bäumen leisten die Biber einen maßgeblichen Beitrag zur Öffnung der Auwälder. Die entstehenden Biberwiesen können unter dem Einfluss weiterer Pflanzenfresser wie Hirschen, Rehen, Auerochsen oder Flehen auch über längere Zeiträume hinweg gehölzfrei bleiben. Überträgt man die aktuellen Befunde nordamerikanischer Untersuchungen auf hiesige Verhältnisse, so ist selbst bei vorsichtiger Schätzung davon auszugehen, daß deutlich mehr als 3% der mitteleuropäischen Naturlandschaft von Bibern beEinflusste Vegetation aufwies. 

Die recht offenen Auenlandschaften wie sie heute beispielsweise in der Biebrza-Niederung oder in den Save-Auen zu finden sind, müssen sich daher nicht zwangsläufig in dem Einfluss des Menschen und seines Weideviehs begründen, sondern können auch vor Jahrtausenden bereits vom Biber initiiert worden sein. Die Tatsache, daß Biber, Elch und Wisent gegenwärtig kaum in der Lage sind, die Wiederbewaldung der Biebrza-Niederung zu verhindern, begründet sich nach M. Borowski (Biebrza Wildlife Trust, Warschau) in den durch reguläre Jagd sowie Wilderei erheblich reduzierten Populationsdichten (z.B. 4 EIche/1.000 ha) Der Schutz und Erhalt der typischen Tier- und Pflanzenarten nasser und feuchter Offenlandlebensräume (Limikolen usw.) läßt sich deshalb zur Zeit nur durch ersatzweises Beweiden mit Haustieren gewährleisten. Auch in den Save-Auen traten den Berichten von Dr. M. Schneider-Jacoby (Euronatur, Radolfzell) zufolge, Haustiere wie das Tupoljer-Schwein oder das Posavina-Pferd an die Stelle ehemals vorkommender Wildherbivoren. Da sich pflanzenfressende Wild- und Haustiere grundsätzlich nicht wesentlich in ihrer Einflussnahme auf die Vegetation unterscheiden, ist davon auszugehen, daß neben den abiotischen Dynamikfaktoren wie Hoch- und Niedrigwasser insbesondere der Beweidung und dem Verbiß eine maßgebliche Bedeutung für den dauerhaften Erhalt des reichstrukturierten Auensystems beizumessen ist. 

Als Indiz für den natürlicherweise hohen Strukturreichtum und die relative Offenheit der Auenlandschaften wertet Dr. M. Schneider-Jacoby zudem die Tatsache, daß viele der dort vorkommenden Vogelarten Grenzlinienbewohner sind, die ihre Brutstandorte in den Hartholzaue oder an den Altwässern haben, zur Nahrungsaufnahme aber überwiegend die durch Hutung offen gehaltenen Bereiche aufsuchen 

Für Dr. H. Vierhaus (Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz, Soest) gilt es als sicher, daß die Vielzahl der heimischen Arten, die Grenzliniensysteme von Wald und Offenland besiedeln (Turteltaube, Saatkrähe, Waldohreule u.a.) ihren Ursprung in einer mehr oder weniger offenen Naturlandschaft hatten. Als typische Beispiele sei in diesem Zusammenhang auf die einheimischen "Wald"-Fledermäuse, die bevorzugt in offenen Landschaften jagen, verwiesen. Auch das Vorkommen von Wiesenweihe, Feldhase, Feldmaus, Feldhamster oder Feldspitzmaus, die nach bisheriger Auffassung nur dank der menschlichen Hilfestellung in Mitteleuropa heimisch werden konnten, fände damit eine plausible Erklärung. 

Belege für die Existenz offener Naturlandschaften sollten sich nach Hans-Joachim Berger (Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz, Soest) jedoch nicht nur unter den Tierarten, sondern auch bei den Pflanzen selbst finden lassen. Denn wenn Pflanzenfresser tatsächlich einen nachhaltigen Effekt auf die Vegetation ausübten, müßten sich auf Seiten der Pflanzen im Rahmen der Co-Evolution Schutzmechanismen gegen das Gefressen werden ausgebildet haben. Tatsächlich zeigen viele heimische Pflanzen morphologische und physiologische Eigenschaften (Bewehrung, Stockausschlag), die auf eine lange intensive Koexistenz mit pflanzenfressenden Großsäugern schließen lassen. Als Beispiel sei hier auf spontane Verbuschungen in der offenen Kulturlandschaft verwiesen, die in der Regel über von Vögeln verbreitete Rosaceen und Weißdorn erfolgen. Weiteren Gehölzen (Ahorn, Schlehe etc.) gelingt das erfolgreiche Anwachsen auf Böden mit guter Nährstoffversorgung fast ausschließlich unter dem Schutzschild der dornenbewehrten Sträucher, die interessanterweise auch eine gute Widerstandskraft gegen Feuer zeigen. 

Feuer und die indirekten Auswirkungen von Beweidung und Verbiß scheinen auch für das Entstehen größerer offener Heideflächen in der Naturlandschaft ursächlich zu sein. Die Initialen der heutigen Calluna-Heiden bestanden nach I. Gorisson (Planungsbüro Grebe, Nürnberg) bereits in den recht offenen Kiefernwäldern des Postglazials. Da Calluna vulgaris jedoch einer anhaltenden Beweidung nicht widerstehen kann, alle Ericaceen zudem typische Brandpflanzen sind, deutet einiges daraufhin, daß sich die Heiden unter dem Einfluss von Beweidung und gelegentlichen Flächenbränden entwickelt haben. Beweidung und Verbiß verdrängten die Gehölze, förderten die Vergrasung und erhöhten damit indirekt die Feuerwahrscheinlichkeit. Brände bewirken dann das Aufkeimen der Samen und gewährleisteten gleichzeitig die für die Existenz von Calluna-Heiden notwendige Nährstoffzehrung. 

In der Zusammenfassung der einzelnen Beiträge entwickelt sich ein Bild, das in zweifacher Hinsicht mit klassischen Lehrmeinungen bricht: 

Große Pflanzenfresser waren demnach keine biologischen ,,Luxusarten". Bis zu ihrer fast vollständigen anthropogen bedingten Vernichtung im frühen Postglazial hinterließen die Vertreter der Großtierfauna und insbesondere die Herbivoren überall in der mitteleuropäischen Naturlandschaft ihre mehr oder weniger auffälligen Spuren. Sie prägten dadurch die landschaftlichen Entwicklungsprozesse ebenso wie Boden, Wasser und Klima nennenswert (mit). 

Eingedenk der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Pflanzenfressern - von der Beweidung über den Vertritt bis hin zum Samentransport über Fell und Kot - müssen natürliche Landschaftsbilder und Biotoptypen diskutiert werden, die mit den tradierten Vorstellungen eines flächendeckend geschlossenen Waldlands nicht im Einklang stehen. Unter dem Einfluss der Großsäuger entwickelten sich mehr-minder offene Landschaften. Die Frage, ob es sich dabei um wald-, savannen- oder steppenähnliche Landschaften handelte, muß jedoch offen bleiben. Die dazu erforderliche Quantifizierung der Einflussintensität im Hinblick auf ihre räumliche und zeitliche Dimension (z.B. Angaben zur Siedlungsdichte oder zeitlich-räumlichen Habitatnutzung verschiedener ausgestorbener Großtierarten) ist allein aus methodischen Gründen nicht möglich. Die Diskussion um das Erscheinungsbild der Naturlandschaft wird deshalb ergebnisoffen weitergehen.  Konsequenzen für den Naturschutz? Aus Sicht des Naturschutzes mag der Eindruck entstehen, die vorgenannten Ergebnisse und Diskussionen reflektierten ein intellektuelles Problem und seien für die praktische Umsetzung so überflüssig wie ein Kropf. Die Bedeutung der Ergebnisse für das Selbstverständnis des Naturschutzes und die ihn zur Zeit bestimmenden Zielkonflikte offenbart sich jedoch bei näherem Hinsehen. 

Stärker als vielleicht je zuvor steht der Naturschutz vor der Aufgabe, seine Zielvorstellungen zu konkretisieren und Leitbilder für zukunftsorientierte Entwicklungsstrategien zu entwickeln. 

Doch artenorientierte Leitbilder reichen nicht aus. Erforderlich sind vielmehr landschaftsbezogene Leitbilder, die Aussagen zu größeren Flächeneinheiten enthalten. Der Erhalt der Vielfalt mitteleuropäischer Arten wird oft mit dem Erhalt und der Wiederherstellung einer extensiv genutzten und reichstrukturierten Kulturlandschaft, wie sie für die Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben wird, in Zusammenhang gebracht. Die These induziert die Unverzichtbarkeit der menschlichen Landnutzung nicht nur für den Erhalt des vorhandenen Artenreichtums, sondern auch für dessen Entstehen. Nur eine Landschaft in der Ackerbau, Viehzucht und Waldnutzung betrieben wird oder in der große Flächen für militärische Übungen genutzt werden, könnte demnach den Zielen des Naturschutzes dienlich sein. 

Das im Laufe der Tagung entwickelte Bild einer potentiell natürlichen mitteleuropäischen Landschaft läßt jedoch Zweifel an dieser anthropozentrischen Sichtweise aufkeimen. Vieles spricht dafür, daß Offenlandlebensgemeinschaflen auch in der Urlandschaft bereits - und nicht nur auf unbedeutenden Flächenanteilen - vertreten waren. Der größte Teil der heute in der Kulturlandschaft vorkommenden Tier- und Pflanzenarten - auch die vielen Arten des Offenlandes - dürfte damit zum Arteninventar der Naturlandschaft gehört haben. Unter dem Einfluss des wirtschaftenden Menschen hätten sich folglich keine grundsätzlich neuen Verhältnisse eingestellt, sondern allenfalls die Dominanzverhältnisse und Habitatmuster verschoben. 

Darüber hinaus verdeutlichen die Diskussionen, daß der Naturschutz gefordert ist, von statischen und konservierenden Konzepten Abstand zu nehmen und sich dynamischen Planungs- und Umsetzungskonzepten, die an der Evolution der Arten und Ökosysteme ausgerichtet sind, zuzuwenden. 

Bislang entwickelt der Naturschutz seine Konzepte und Modelle vornehmlich auf der Grundlage faunistischer und floristischer Beschreibungen des Ist-Zustands. Die Tatsache, das Ökosysteme und die von ihnen gebildeten Landschaften in Raum und Zeit vom dynamischen Wandel bestimmt werden und die Tiere und Pflanzen sowie die Wechselbeziehungen zwischen ihnen einem fortlaufenden zeitlichen Kontinuum unterliegen, wird dabei vernachlässigt. 

Zukunftsorientierte Naturschutzkonzepte, die zur nachhaltigen Sicherung und Nutzbarkeit unserer natürlichen Lebensgrundlagen führen können, dürfen sich jedoch nicht auf die Erfassung und Bewertung des Ist-Zustands beschränken. Vielmehr müssen sie, trotz der Tatsache, daß sich der Zeitfaktor gerade im Hinblick auf die historische Dimensionen einer verläßlichen wissenschaftlichen Beschreibung entzieht, der Dynamik Rechnung tragen. 

In diesen Kontext stellt sich auch der Versuch einer Retrospektive auf die frühen, urzeitlichen mitteleuropäischen Landschaften. Wie notwendig es ist, sich ein Bild von den natürlichen Ursprüngen der Kulturlandschaft zu machen, zeigen die den Naturschutz gegenwärtig bestimmenden Zielkonflikte überdeutlich. So werden Sukzessions- oder Prozeßschutzkonzepte kontrovers diskutiert, da sie nach Meinung der Kritiker mit der ethischen Verpflichtung, alle Arten - auch die des Offenlandes - zu erhalten, nicht vereinbar wären. Andererseits verkennen ihre Befürworter, das Sukzessionsentwicklungen unter den heutigen Rahmenbedingungen nur zu begrenzter Natürlichkeit im Sinne auch von dynamischer Entwicklung führen können, da sie beispielsweise ohne nennenswerte Wechselwirkungen zwischen Vegetation und größeren Tieren stattfinden müssen. Sukzessions- und Prozessschutzkonzepte haben daher auf den Erhalt sowohl der primären als auch der sekundären Dynamikvorgänge abzuzielen.  Biologisch-ökologische Landschaftsbilder und praxistaugliche Naturschutzkonzepte Die Schwierigkeiten für den Naturschutz beginnen nach Dr. E. Reisinger (Thüringer Landesanstalt für Umwelt, Jena) und Chr. Heinrich (NABU BAG Wald und Wild, Bonn) jedoch dort, wo biologisch-ökologische Landschaftsbilder in eine praxistaugliche Naturschutzkonzeption eingebunden werden müssen. Verfolgt der Naturschutz das Ziel postglazialer Natürlichkeit, so steht er vor dem Problem, daß weder die nacheiszeitlichen Faunenelemente mehr vorhanden sind noch der bis heute wirkende menschliche Einfluss umgekehrt werden können. Wesentlich zielführender erscheint den Referenten daher der in zwei Szenarien deutlich gemachte Ansatz potentieller Naturnahe: 

  1. Das Re-Integrationsszenario verfolgt das Ziel, in möglichst großen Schutzgebieten die Re-Integration möglichst vieler Elemente der Megafauna zu realisieren. 

    Im Rahmen des Gewässerauenprogramms des Landes NRW sollen Abschnitte der Lippe und ihrer Auen renaturiert werden. Das Entwicklungsziel ist, wie J. Drüke ausführte, ist eine naturnahe Flusslandschaft, die sich ohne Eingriffe des Menschen entwickeln kann. Dort wo heute landwirtschaftliche Intensivnutzungen das Bild bestimmen, sollen insbesondere unter dein Einfluss von Reh und Heckrind extensiv genutzte Kulturlandschaftsflächen und Auewald-Wildnisse entstehen. 

    Wesentlich weitreichendere und für den Naturschutz zunächst ungewohnte Zielsetzungen verfolgt das von Dr. K. M. Scheibe vorgestellte Multi-Species-Projekt des Instituts für Zoo- und Wildtierforschung. Ziel des wissenschaftlich ausgerichteten Vorhabens, das in einer ostdeutschen Bergbaufolgelandschaft angesiedelt werden soll, ist es, das Beziehungsgefüge Großsäuger-Pflanzen-Landschaft und die Einbindung der Arten in das Raum-Zeit-System zu erforschen sowie davon abgeleitet, Maßnahmen des Populationsmanagements zu entwickeln. Im Rahmen des Vorhabens sollen in einer definierten Versuchslandschaft Projektpopulationen aus Herbivoren (Wisent, Ur, Elch, Rothirsch, Tarpan, Reh und Wildschwein) und Prädatoren (Wolf, Luchs und Bär) begründet werden, die sich unter einem Höchstmaß an Selbstregulation und weitestgehend ohne menschliche Einflussnahme entwickeln können, 

  2. Das Status-quo-Szenario setzt auf die stärkere Verknüpfung von Naturschutzzielen mit ökonomischen Zielen (nachhaltige Nutzung) und zwar auf möglichst großer Fläche. 

    Für die thüringische Unstrutaue vertritt Dr. E. Reisinger das Konzept zur Entwicklung einer Flusslandschaft, die einerseits den Biodiversitäts-Anforderungen des Naturschutzes genügt, gleichzeitig aber auch den Landwirten auf den angestrebten nassen und feuchten Grünlandstandorten hinreichend gute Wirtschaftsbedinungen bietet. Ziel des Naturschutzes ist es, eine zur Zeit extrem naturferne Auenlandschaft unter Berücksichtigung ökonomischer Faktoren zu revitalisieren. Den Schlüssel zum Erfolg sieht Reisinger in der Wiederansiedlung des "Auerochsen" (Heckrind) sowie der Begründung von beweideten Weichholzauen-Energiewäldern. 

Dipl.-Biol. Ralf Schulte, NABU-Akademie Gut Sunder


Die Tagungsveranstaltung wurde vom Bundesamt für Naturschutz aus Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Die Veranstaltungsinhalte und -ergebnisse geben nicht unbedingt die Meinung des Bundesumweltministeriums, des Bundesamt für Naturschutz oder des Naturschutzbund Deutschland (NABU) wieder.