Natuurontwikkeling - Naturentwicklung |
Ergebnisse eines Seminars der NABU-Akademie Gut Sunder vom 08. bis 09. Oktober 1997 |
Kaum ein mitteleuropäisches Land weist eine vergleichbar
hohe Bevölkerungs- und Landnutzungsdichte auf wie die Niederlande. Für Natur und
großflächigen Naturschutz blieb daher in der Vergangenheit nur wenig Raum. Trotz aller
politischen Bemühungen der letzten Jahre hält der Rückgang von Flora und Fauna, das
gilt nicht nur für seltene Arten, weiterhin an. Der niederländische Naturschutz steht
daher vor der Herausforderung, mit einem nationalen Maßnahmenprogramm Naturschutz die
langfristige Erhaltung, Entwicklung und nachhaltige Wiederherstellung von Natur,
Landschaftsteilen und Landschaftsbestandteilen voranzutreiben. Wichtiger Bestandteil des
Programms ist die Schaffung eines landesweiten ökologischen Verbundsystems. Neben
Kernzonen (Gebiete mit aktueller Bedeutung für den Naturschutz) bilden insbesondere die
Naturentwicklungsgebiete das strategische Herzstück des auf die Dauer von ca. 30 Jahren
ausgerichteten Plans. Ziel des staatlichen Naturschutzes sind 50.000 ha "neue
Natur". Um dieses Ziel zu erreichen, gab das niederländische Ministerium für
Landwirtschaft, Naturmanagement und Fischerei 1994 etwa 30% der zur Verfügung stehenden
Mittel für Naturentwicklung aus. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Information
über die niederländischen Konzepte, der Austausch von Erfahrungen sowie die Frage der
Übertragbarkeit der Ergebnisse auf deutsche Verhältnisse. "Neue Natur" entwickelnDas niederländische Konzept zur Entwicklung "neuer Natur" fand seine Initialen am Südrand des Ijsselmeeres. Die Einpolderung und die Entwässerung des Ijsselmeergebietes stand zunächst im schroffen Gegensatz zu einer 'natürlichen' Entwicklung. Mittlerweile stellt das Ijsselmeergebiet jedoch ein wichtigen Bestandteil der ökologischen Grundstruktur dar. Die dortigen Polder boten den niederländischen Naturschützern erstmals die Möglichkeiten zum Studium nutzungsfreier Gebiete. Auf den nährstoffreichen Standorten des Oostvaardersplassen liefen natürliche Prozesse in einer Geschwindigkeit ab, die die statisch-konservierenden Ziele des Naturschutzes erheblich ins Wanken brachten. Alle Hoffnungen und Anstrengungen, die Sukzession und den vermeintlichen Verlust wertvoller Lebensräume verhindern zu können, wurden aufgegeben. Erst das konzentrierte Auftreten von 60.000 mausernden Graugänsen brachte bis dahin nicht für möglich gehaltene Erkenntnisse. Die äsenden Graugänse erwiesen sich als landschaftsgestaltende Elemente. Dieses öffnete die Augen für die landschaftsbeeinflußende Wirkung Pflanzen fressender Tiere. Gleichzeitig offenbarten sich vielfältige Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Biotoptypen (Grenzliniensysteme). Angeregt durch die Graugänse suchte man in den folgenden Jahren nach Analogien für ehemals in Mitteleuropa heimische große Herbivoren. In der Folge wurden wilde (z.B. Rothirsch) und domestizierte (z.B. Konik-Pferde, Tarpan, Heckrinder) Pflanzenfresser in den Oostvaardersplassen eingeführt. Im Augenblick gibt es bereits wichtige Beziehungen mit anderen Gebieten in der Umgebung, wie zum Beispiel dem Naardermeer, Waterland, dem Nordostpolder und den Uferzonen von Nordholland, Friesland und dem Wattenmeer. Um die Naturwerte dieser Gebiete sicherzustellen, erwirbt der Staat die Areale und erklärt sie zu Naturschutzgebieten. Weitere Vorhaben sehen die Entwicklung des Ijssel- und Vechtdeltas vor. Das Leitbild der niederländischen NaturentwicklungskonzepteLeitbild der niederländischen Naturentwicklungskonzepte ist die von DR. FRANS VERA für das mitteleuropäische Tiefland entwickelte Theorie des zyklischen Vegetationswechsels. Sie unterstellt, daß nicht dichte geschlossene Laubwälder, sondern parkähnliche, offene Wälder das Landschaftsbild bestimmten. Unter dem Einfluß großer Pflanzenfresser stehende dynamische Prozesse kennzeichneten die Ökosysteme. Am Beispiel von Eiche und Hasel glaubt Vera nachweisen zu können, daß die natürliche Verjüngung der Waldbäume außerhalb des Waldes, im Schutz dorniger Sträucher stattfand. Nur innerhalb der Gebüsche konnten typische Waldbäume wie Eiche und Hasel aufwachsen, ohne von den verbreitet vorkommenden großen Herbivoren zerstört zu werden. Unter Umständen wuchsen sie zu Wäldern auf, die langsam unter dem Einfluß von Pflanzenfressern, Stürmen oder Dürren zu Grasländern degenerierten, um anschließend wieder zu Busch-Waldlandschaften zu werden. Verschiedene Biotope (Grasländer, Gebüsche, Wälder) existierten zwar in einem zeitlichen Kontinuum, aber im räumlichen Wechsel. Die von naturschutzfachlicher Seite mehrheitlich vertretene These, daß erst die landwirtschaftliche Nutzung neue Offenlandbiotope entstehen ließ, weist Vera als falsch zurück. Da die großen Pflanzenfresser ein wesentlicher Bestandteil der Theorie der "wandernden Biotope" sind, wird ihnen auch in dem von Vera maßgeblich mit beeinflußten Konzept zur Naturentwicklung eine Schlüsselrolle eingeräumt. Die Wiederansiedlung des Bibers oder die Begründung halbnatürlich lebender Herden von Paar- und Unpaarhufern stellt daher ein unverzichtbares Element der Entwicklung dar. Naturentwicklung wird auf Flächen unternommen, auf denen "ein blindes Pferd nicht sprechen kann" (holländisches Sprichwort). Auf diesen für den Naturschutz vermeintlich bedeutungslosen Flächen, zeigt sich aber, welches Entwicklungspotential die Natur zu entfalten vermag, wenn dem "Dialog mit den Systemträgern" entsprechende Freiräume eingeräumt werden. Rund 200 nachgewiesene Brut- und Zugvogelarten, darunter eine Brutkolonie des Großen Silberreihers und der Bartmeise oder das Wiederauftreten der in Europa gefährdeten Senecio congestus unterstreichen den bisherigen Erfolg am Oostvaardersplassen. Entlang der großen niederländischen Flüsse Rhein, Maas und Ijssel verfolgt der staatlich getragene Plan "Schwarzstorch" das Ziel großflächiger Naturentwicklung. Die dortigen Flußauenlandschaften werden gegenwärtig von Grasland dominiert. Naturnahe Weich- oder Hartholzauen existierten bis auf wenige kleinflächige Relikte nicht mehr. Im Mittelpunkt der Leitliniendiskussion stand deshalb die Fragen: "Gehören Bäume oder Gräser in die Aue?" und "Was kann man machen, damit etwas von der ursprünglichen Natur in die Aue zurückkommt?". Am Beispiel des Gelderse Port erläuterte JOHANN BEKHUIS die Maßnahmen, die getroffen werden, um eine Wiederbelebung der Auen zu erreichen. Wichtigstes Ziel ist die Wiederherstellung der natürlichen Flußdynamik mit saisonalem Wechsel zwischen Überschwemmung und Trockenfallen. Zur Schaffung der ökologischen Infrastrukturen erfolgte die Öffnung der Sommerdeiche und die Rückverlegung der landwirtschaftlichen Nutzung hinter die Winterdeiche. Die in den Deichbecken abgelagerten Tonsedimente, die nicht nur die Wasserspeicherkapazität der Auen beeinträchtigen, sondern in der Vergangenheit die regelmäßige Erhöhung der Deiche erforderlich machten, wurden großflächig abgegraben. Da natürliche Prozesse wieder zugelassen werden, konnten sich unter anderem Dünen wieder entwickeln. Die "Betreuung" der der natürlichen Dynamik überlassenen ehemaligen Grünland- und Ackerflächen haben frei lebende Pferde- und Rinderherden übernommen. In den Auewaldrelikten und den sich neu ausbildenden Weichholzauen sollen wieder angesiedelte Biber die Entwicklung beeinflussen. Die ausgesetzten Galloways leben unter naturnahen Bedingungen (freie Orts- und Partnerwahl, keine Zu- oder Winterfütterung) und bilden typische Sozialstrukturen aus. Die Beweidungsdichte beträgt 1 Tier/ha. Probleme bereitet zunächst die Entwicklung der ehemaligen Maisäcker. In den ersten Jahren der Brache bildeten sich flächendeckende Ackerdistelbestände aus. Nach rund fünf Jahren entwickelte sich der Distelbestand rückläufig und in den Lücken siedelten sich typische Pflanzen der Aue (z.B. Schwarzpappel) an. Insgesamt können mittlerweile mehr als 350 Pflanzenarten festgestellt werden. Auch die Ansiedlung des bis dahin extrem seltenen Wachtelkönigs auf ehemaligen Maisäckern wird beobachtet. Da Arten- oder Biotopschutzgesichtspunkte im Konzept der Naturentwicklung nur eine untergeordnete Rolle spielen, sondern systemare Ansätze im Vordergrund stehen, ergeben sich in Einzelfällen Konflikte mit Vertretern des klassischen Artenschutzes. So entzünden sich im Gelderse Port kontroverse Diskussionen um die Uferschnepfe, die auf den Grünlandstandorten in der Vergangenheit günstige Habitatbedingungen vorfand, in Folge der Naturentwicklung im Bestand rückläufig ist. "Der Mensch gibt den Rahmen, die Natur füllt ihn aus!"Dieser, die Konzepte der niederländischen Naturentwicklungsgebiete prägenden Grundsatz kennzeichnet in Deutschland zur Zeit das an der Lippe von der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz durchgeführte Klostermersch-Projekt. Frau DR. MARGRET BUNZEL-DRÜKE erläuterte, daß das in das nordrhein-westfälische Auenprogramm eingebundene Vorhaben zunächst den Erhalt der verbliebenen Grünländereien als offenes Feuchtgrünland vorsah und lediglich für die Ackerflächen die Rekonstruktion des Auewaldes in Erwägung zog. Darüber hinaus sollten die fließgewässerdynamischen Prozessen wiederbelebt werden. Heckrinder, die zur "Abschreckung" von Freizeitsuchenden und zur Beruhigung des ungenutzten Grünlandes angeschafft worden waren, erwiesen sich im Laufe der Zeit trotz der geringen Dichte (0,25 Großvieheinheiten/ha) als Landschaftsgestalter. Die Heckrinder sollen aus Gründen des Naturschutzes, der Wasserwirtschaft und insbesondere des Hochwasserschutzes für oberhalb liegende Siedlungen eine geschlossene Bewaldung verhindern und helfen eine halboffene Landschaft aus Hochstaudenfluren, Gebüschen und Auewäldern zu erhalten. Heckrinder dürfen oder können zur Zeit aus veterinärmedizinischen und tierschützerischen Gesichtspunkten nicht "halbwild" gehalten werden. Pflegemaßnahmen wie Winterfütterung und Bestandslenkung werden durchgeführt. Dennoch kann das Ziel der Auenrenaturierung kann nicht allein durch die Rinder erreicht werden. Zusätzlich waren massive bauliche Eingriffe in das Querprofil der Lippe erforderlich. Die Lippe ist danach breiter und flacher. Weitere Abschnitte sind in der Planung. Erste ichtythofaunistische Ergebnisse deuten auf den erfolgreichen Verlauf der Renaturierungsmaßnahmen hin. Typische, aber nicht mehr oder nur in wenigen Individuen vorkommende Fischarten stellten sich bereits kurz nach Abschluß der Bauarbeiten wieder ein (Nase, Barbe, Gründling). Naturentwicklung in DeutschlandDie Hinterlassenschaften des Braunkohletagebaus in der Niederlausitz und die sich bei der Renaturierung ergebenden Möglichkeiten der Naturentwicklung standen im Mittelpunkt des Beitrags Frau DR. FRIEDERIKE SCHULZ. Aufgrund der weitgehenden Ungestörtheit sowie der Heterogenität und Dynamik der Bodensubstrate bildeten sich im Laufe der Jahre aus Naturschutzsicht wertvolle Lebensgemeinschaften aus. Naturschutzrelevante Merkmale der BFL sind insbesondere Rohkippen, schüttere Pioniervegetation, Kurzgras-und Hochgrasrasen, Zwergstrauchheiden, Vorwald und Gebüsche sowie Eichen-Kiefern-Wälder. Die auf den Rohböden- und offenen Sandflächen entstandenen Strukturen und Lebensgemeinschaften sind für viele Arten zu Ersatzlebensräumen geworden sind. Die Planungen sehen vor, der Natur auf rund 4.900 ha Vorrang vor allen anderen Nutzern einzuräumen. Für die Renaturierungspraxis verbinden sich mit dieser Zielsetzung jedoch zahlreiche offene Fragen. Aufgabe des LENAB-Projekts ist es, Wege zu finden, auf denen mit minimalem Aufwand sich selbstorganisierende und erhaltende Landschaften mit naturnahen Ökosystemen hergestellt und die Voraussetzungen für ihren Erhalt geschaffen werden können. Erhebliche Schwierigkeiten bereitet dabei jedoch die Begründung einheitlicher Naturschutzziele, da unterschiedlichen Grundmotiven Rechnung zu tragen ist. In Abhängigkeit vom bestimmenden Grundmotiv werden daher für die Naturentwicklung verschiedene Leitbildszenarien in Betracht gezogen, angefangen vom abiotischen Ressourcenschutz, über den Schutz biotischer Ressourcen, den Artenschutz im engeren Sinne bis hin zum sogenannten ästhetischen Ressourcenschutz. Das Leitbild "Wildnis" ist nur eines von mehr als einem Dutzend verschiedenen Szenarien. Mit Hilfe der unterschiedlichen Leitbilder soll dem Naturschutz ein dringend benötigtes Instrument zur wissenschaftlich begründeten Geltendmachung von Naturschutzvorrangflächen an die Hand gegeben werden. Als Grundlagen für die Erfassung und Bewertung der Biotope werden Kartierungs- und Bewertungsmethoden entwickelt, die auf die Eigenart von Natur und Landschaft aufgelassener Tagebaue der Lausitz ausgerichtet sind. Die Biotop-Qualitätsbewertung soll allgemeine Kriterien (Seltenheit, Regenerierbarkeit, Reife, Artenvielfalt, Vorkommen geschützter und gefährdeter Tier- und Pflanzenarten bzw. -gesellschaften usw.), äußerere biotopspezifische Parameter (Flächen-, Nachbarschafts- und Randlinienkoeffizient usw.) und innere ökofaunistische Strukturparameter beinhalten, um Rückschlüsse auf die Bedeutung bzw. das Entwicklungspotential dieser bergbauspezifischen Biotoptypen der Lausitz als Lebensräume für Flora, Fauna und Vegetation ziehen zu können. Unterschiedliche Naturentwicklungskonzepte werden auch für ehemalige Truppenübungsplatze der WGT-Streitkräfte in Brandenburg diskutiert. Dreizehn ehemalige Übungs- und Schießplätze und sieben Truppenübungsplätze mit einer Gesamtfläche von 930 qkm wurden vom Land Brandenburg übernommen. Davon waren bis zum Jahr 1997 nur zwei als Naturschutzgebiete rechtsgültig abgesichert und das Gebiet der Döberitzer Heide wurde der EU als Important Bird Area gemeldet. Der hohe Naturschutzwert ergibt sich nach DR. MATTHIAS KÜHLING von der Universität Potsdam aus weitgehend von der Intensivierung des Landbaus und der Forstwirtschaft unberührt gebliebenen Flächen. Sie weisen in den ehemaligen Rand- und Ruhezonen einen hohen Anteil an naturnahen Biotopen und Landschaftsteilen auf, die für den jeweiligen Naturraum repräsentativ sind. In den großflächigen Bereichen extensiver militärischer Nutzung ist ein zeitlich und räumlich vernetztes Mosaik verschiedenartiger Typen von Offenlandschaften mit herausragender Artenvielfalt entstanden. Großräumige Sandoffenlandschaften und Zwergstrauchheiden entwickelten sich in den Bereichen der intensiv genutzten Panzertrassen, Schießbahnen und Brandflächen. Auf diesen Flächen findet sich eine Artenausstattung überregionaler Bedeutung in stabilen und langfristig potentiell überlebensfähigen Populationen. Für regionale und überregionale Biotopverbundsysteme sind die fast vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehenden Truppenübungsplätze nicht ersetzbare Knotenpunkte. Der staatliche Naturschutz verfolgt daher auf den ehemaligen WGT-Übungsplätze das Ziel der qualitativen und quantitativen Absicherung des vorhandenen Naturpotentials. Dabei soll - auch aus finanziellen Gründen - der Naturentwicklung breiter Raum eingeräumt werden. Naturentwicklung müsse unter diesen Voraussetzungen aber heißen, zu versuchen, das vorhandene hohe Potential bestandserhaltend oder -fördernd zu entwickeln. Die Etablierung von Beweidungssystemen, wie sie in den Niederlanden als unverzichtbar angesehen würde, hielt Kühling im Sinne einer lokal klar definierten Zielsetzung für sinnvoll und notwendig. Eine großflächige Beweidung sei seines Erachtens aber mit den Zielen der Naturentwicklung nicht vereinbar. Natuurontwikkeling - ein Vorbild für den bundesdeutschen Naturschutz?Die Vorträge und intensiven Diskussionen verdeutlichten, daß Naturentwicklungskonzepte niederländischer Prägung - von Einzelfällen abgesehen - bislang keinen Eingang in das strategische oder konzeptionelle Gedankengebäude des deutschen Naturschutzes gefunden haben. In Anbetracht der durchaus bemerkenswerten ökologischen und naturschutzfachlichen Erfolge, die die niederländischen Naturentwicklungsgebieten in ihrer noch jungen Geschichte vorzuweisen haben, stellt sich die Frage, warum die Erkenntnisse und Erfahrungen in deutschen Naturschutzkreisen bislang so geringe Beachtung gefunden haben, häufig sogar auf grundsätzliche Ablehnung stoßen. Die Gegenüberstellung deutscher und niederländischer Naturentwicklungsprojekte läßt deutliche naturschutzfachliche Unterschiede erkennen. Im Verständnis des niederländischen Naturschutzes bedeutet Naturentwicklung, die Natur sich weitestgehend eigendynamisch entwickeln zu lassen. Der Naturschutz stellt lediglich Flächen zur Verfügung. "Mutter Natur" übernimmt alles weitere. Naturentwicklung im Sinne des deutschen Naturschutzes meint hingegen, Arten, Biotope und Lebensgemeinschaften mit konkreter Zielsetzung durch Management zu entwickeln. Ursächlich dafür sind zum einen die offenbar recht unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen und Rahmenbedingungen unter denen Naturschutz in den Niederlanden und in der Bundesrepublik stattfindet. Während der niederländische Naturschutz seit Jahrzehnten mit dem "Rücken zur Wand" steht und sich eingestehen mußte, daß die Gesamtfläche der Lebensräume für wildlebende Pflanzen und Tiere, trotz aller Anstrengungen, die dagegen unternommen wurden, weiterhin ständig rapide abnahm, agiert der bundesdeutsche Naturschutz offenbar nicht unter einem vergleichbaren "Leidensdruck". Die politischen Veränderungen in Ost- und Westdeutschland bedingten augenscheinlich sogar eine Situation, in der sich der Naturschutz weniger mit der Frage nach einem Mehr an Flächen auseinanderzusetzen hatte, sondern vielmehr kurzfristige geeignete Managementkonzepte für die Vielzahl der zur Verfügung stehenden großflächigen Gebiete mit ökologisch wertvoller Naturausstattung bestandserhaltend oder -fördernd zu entwickeln hatte. Das Konzept der Naturentwicklung entstand zudem zu einer Zeit, in der sich in der niederländischen Bevölkerung ein verstärktes Bedürfnis nach naturnahen Landschaften herausbildete, die den gewachsenen Erholungs- und Freizeitanforderungen gerecht werden konnten. Nach Jahrzehnten des Rückgangs von Landschaftsqualität und Landschaftsvielfalt traten daher Naturschutzorganisationen und der niederländischer Automobilclub gemeinsam für mehr "neue Natur" ein. Den einzigen Ausweg aus dieser landschaftsstrukturellen Notlage sah man in der Natur(neu)entwicklung. Für die niederländischen Naturschützer standen daher primär nicht Aspekte des Arten- und Biotopschutzes im Mittelpunkt des Interesses, sondern es mußten Antworten auf drängende sozial-ökonomische und sozial-ökologische Fragen gefunden werden. Mit der Entwicklung von Leitbildern und der Erprobung verschiedener Konzepte für "neue" Natur, versuchte der Naturschutz den gesellschaftspolitischen Heraus- und Anforderungen gerecht zu werden. Dabei musste man sehr schnell erkennen, daß die klassischen Leitbilder des Arten- und Biotopschutzes nicht den Anforderungen genügten. Vielmehr galt es, neue Wege zu neuen Landschaften zu suchen. Nicht Tier- und Pflanzenarten oder Biotope wurden daher als Maßstabsebene gewählt, sondern es wurde erkannt, daß nur ein systemarer Ansatz gewisse Erfolgsaussichten haben würde. Auch hatten die niederländischen Naturschützer nicht die Absicht, die typischen Landschaften der vergangenen Jahrhunderte zu rekonstruieren, sondern eine moderne Naturlandschaft entstehen zu lassen. Man war sich der Tatsche bewußt, daß die ungünstigen Ausgangssituationen (hoch eutrophierte Ackerböden, belastetes Rheinwasser usw.) billigend in Kauf zu nehmen wären, da das Rad der Entwicklung nicht zurückgedreht werden könnte. Dennoch widmeten die Väter der Naturentwicklung den Fragen des ursprünglichen und des anzustrebenden Natur- und Landschaftsbildes große Aufmerksamkeit. Ökologische und biogeographische Hypothesen wurden auf ihre Tauglichkeit als Referenzbild für eine mitteleuropäischen Naturlandschaft geprüft. Offen bleibt jedoch die Frage, welche Arten von Ökosystemen bzw. Lebensgemeinschaften sich über längere Zeiträume hinweg unter den heutigen Umweltbedingungen in den Naturentwicklungsgebieten ausbilden werden und welche ökologischen Prozesse sich wieder herstellen oder verstärken lassen. Bis auf weiteres unbeantwortet bleiben muß auch die Frage nach der minimalen räumlichen Dimension von Gebieten, in denen sich eine natürliche Dynamik erfolgsführend einstellen kann. Dipl.-Biol. Ralf Schulte, NABU-Akademie Gut Sunder |
Weiterführende Links |
|
Die Tagungsveranstaltung wurde vom Bundesamt für Naturschutz aus Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Die Veranstaltungsinhalte und -ergebnisse geben nicht unbedingt die Meinung des Bundesumweltministeriums, des Bundesamt für Naturschutz oder des Naturschutzbund Deutschland (NABU) wieder. |