Braucht der Naturschutz neue Konzepte für das Wildtiermanagement?
Vortrag von Prof. Dr. H.-H. Bergmann anlässlich des Seminars vom 27.11. bis 28.11.1999

Management von wilden Gänsen

Wilde Gänse wie Blässgänse, Nonnengänse und Ringelgänse streben alljährlich aus ihren arktischen Brutzonen kommend dem milden atlantischen Westen Europas zu, um hier den Winter zu verbringen (Madsen et al. 1999). Da sie in großen Scharen auftreten (Spilling et al. 1999) und Pflanzenfresser sind, bewirken sie bei den Landwirten, auf deren Flächen sie niedergehen, Besorgnisse wegen möglicher Ernteschäden. Diese Besorgnisse sind weitgehend unbegründet: (1) Die Kulturpflanzen wie Raps und Wintergetreide können den Verbiss durch die Gänse mit Hilfe ihrer Regenerationsleistung zum größten Teil wieder ausgleichen (vgl. Bergmann im Druck). (2) Mehr als die Hälfte der entnommenen Biomasse wird - wenigstens zur Vegetationszeit im Frühjahr - durch die Düngewirkung des hinterlassenen Gänsekots zurückerstattet (Balkenhol et al. 1984).

Dennoch gibt es Situationen und Bedingungen, unter denen aus Weideschäden Ernteschäden werden können, d.h. Ertragseinbußen für die Landwirte entstehen können. Hierzu trägt vor allem die Bejagung bei, die über die starke Beunruhigung der Gänse zu erhöhtem Energieverbrauch und Konzentrierung der Vögel auf ungestörten Flächen führt (Mooij 1991, Bergmann 1999).

Um Weide- und spätere mögliche Ernteschäden zu vermeiden, gibt es ein ganzes Arsenal von Managementmaßnahmen unterschiedlicher Qualität. Sie variieren sowohl in ihrer Wirksamkeit als auch in ihrer Verträglichkeit für die Gänse und ihrem ökonomischen Kostenaufwand. Die überwinternden Wildgansarten in Deutschland sind zum größten Teil Fernwanderer (Rutschke 1987). Sie verdienen nach internationalen Konventionen (Bonner Konvention, Ramsarkonvention, AEWA)und - rechtlich verbindlicher - nach europäischer (EU-Vogelschutzrichtlinie) und deutscher Gesetzgebung (Naturschutzgesetz § 20) Schutz. Dieser Schutz schließt auch die Lebensräume ein. Alle Managementmaßnahmen müssen daher auch nach Schutzgesichtspunkten bewertet werden (Spilling 1999). Dies geschieht in Abb. 1, in der die einzelnen Managementmaßnahmen von oben nach unten nach sinkender Wertigkeit für die Gänse angeordnet sind. Die Maßnahmen in der Ebene 4 sind eher als nachteilig zu bewerten, die der Ebenen 5 und 6 abzulehnen.

Ebene 1

Das höchste Ziel muss in einer Duldung der Vögel bestehen (vgl. Spilling 1999). Diese würde es ihnen ermöglichen, auf möglichst großer Fläche nach eigener Wahl ungestört zu weiden. Dabei würden sie, wenn die Erwartung zutrifft, die Flächen extensiv nutzen, d.h. unterhalb einer Schadensschwelle von ca. 2000 Gänsetagen/ha bleiben (Bergmann & Wille, im Druck). Zugleich würde durch fehlende Störwirkungen ihr Energieverbrauch und entsprechend der von ihnen erzeugte Weidedruck Minimalwerte erreichen.

Infolge der Duldung könnten Gänse durch Habituation geringe Fluchtdistanzen gegenüber dem Menschen einhalten, was die Entwicklung eines ökonomisch gewinnträchtigen Gänsetourismus fördern würde (Wille in Vorb.). Falls die Duldung den Landwirten nicht zuzumuten wäre, könnte man sie durch Zahlung einer Duldungsprämie fördern. Dies wäre besser als Ausgleichszahlungen für erlittenen Schaden zu leisten, zumal ein durch Gänse erzeugter Ernteschaden kaum objektiv gemessen werden kann (Spilling 1999).

Ebene 2

Die Landwirte können selbst durch verschiedene Maßnahmen dazu beitragen, einen möglichen Ernteschaden zu vermeiden oder zu vermindern. Diese Maßnahmen gehören teilweise zum üblichen landwirtschaftlichen Vorgehen, teilweise können sie dem Landwirt zusätzliche Kosten verursachen. Ein erstes Verfahren wäre Nutzungsänderung. In unmittelbarer Nachbarschaft eines Gänseschlafplatzes auf einem Gewässer ist es wenig sinnvoll, Wintergetreide anzubauen. Der Anbau von Sommergetreide könnte hier helfen, Konfliktsituationen mit überwinternden Gänsen zu vermeiden. Sehr nützlich könnte es auch sein, Getreide- oder Maisstoppelfelder in den Winter hinein liegenzulassen, anstelle sie bald nach der Ernte umzupflügen. Wegen der noch verbliebenen Körnernahrung können sie Gänsescharen eine Zeitlang binden.

Auch Zwischenfrüchte, die später als Gründüngung umgeackert werden, könnten den Gänsen zwischendurch als Nahrungsgrundlage dienen.

Ebene 3

Um besonders empfindliche Kulturen in sensiblen Stadien der Entwicklung zu schützen, kann man sie zeitweise durch Überspannen mit Draht schützen. In Abständen von ca. 10 m werden Drähte zwischen Pfosten auf einer Höhe von ca. 1 m über die Fläche gespannt. Da diese Drähte die Vögel beim Landen und Starten behindern bzw. weil sie im Wind ein summendes Geräusch erzeugen, vermeiden die Gänse die auf diese Weise überspannten Flächen. Dieses Verfahren wird zum Beispiel auf der holländischen Insel Texel verwendet (Postma, mündl. Mitt.). Die Kosten werden dort vom behördlichen Naturschutz getragen, anderenfalls müssen sie von den Landwirten übernommen werden. Dieses passive Abwehrverfahren schränkt zwar die Wahlfreiheit der Gänse ein, kann aber vertreten werden, wenn genügend andere Flächen für die Vögel zur Verfügung stehen.

Ebene 4

Ablenkfütterung im engeren, hier gemeinten Sinne beinhaltet ein Verfahren des Vertragsnaturschutzes. Auf bestimmten Flächen werden entsprechend einer vorher mit dem Landwirt getroffenen Vereinbarung die Früchte wie z.B. Getreide nicht geerntet, sondern belassen. Sie werden dann zu einem geplanten Zeitpunkt durch Walzen für die Gänse zugänglich gemacht. Noch extremer sind Verfahren, bei denen Getreide oder Mais direkt auf bestimmten Nahrungsflächen für die Vögel verteilt werden. Diese Verfahren führen zu ungewöhnlich hohen Konzentrationen von Vögeln, deren Bedeutung für das Individuum noch nicht abgesehen werden kann. Auch ist ungewiss, in welchem Ausmaß die Vögel länger in der Region gebunden oder sogar hierher gelockt werden, was im Sinne der Landwirtschaft eher kontraproduktiv sein könnte. Wiederholtes Verscheuchen kostet den Landwirt Energie bzw. Zeit bzw. Geld, führt aber nur zu kleinräumiger Verlagerung des Problems und ist nur wenig wirksam (Percival et al. 1997) . Auch kostet es die Vögel zusätzliche Energie, deren Verlust sie durch zusätzliches Fressen wieder gutmachen müssen.

Ebenen 5 und 6

Sowohl der Abschuss zum Zweck des Vertreibens als auch derjenige zur Reduktion der Gänsepopulation widersprechen den oben genannten Schutzzielen. Sie müssen durch Jagdausübungsberechtigte vorgenommen werden, da Gänse zum größten Teil jagdbare Vogelarten sind. Müßte diese Jagdausübung bezahlt werden, wäre sie als Maßnahme teuer. Zudem mögen sich Jäger ungern als Helfer in der Landwirtschaft betätigen. Schließlich hat die Bejagung der Vögel zahlreiche unerwünschte Nebenwirkungen. Solange noch mit Bleischrot geschossen wird, führt das dazu, dass viele Vögel nur verletzt werden und mit Blei im Körper allmählich dahinsiechen (Übersicht bei Ridder 1999). Außerdem wird viel Blei in der Landschaft konzentriert, was wiederum direkt oder indirekt in der Nahrungskette aufgenommen und transportiert zu weiteren Vergiftungen bis hin zum Menschen führen kann. Zusätzlich führt der Abschuss zu großer Scheu der überlebenden Vögeln. Sie verbrauchen, wie oben geschildert, mehr Energie und Nahrung und suchen sie auf kleinerer ungestörter Fläche. Abschuss führt daher zu verringerter Kapazität der Landschaft für die Vögel und ist kontraproduktiv aus der Sicht des Landwirts (Bergmann & Wille in Vorb.).

Die genannten Maßnahmen können in ähnlicher Weise auch gegenüber Schwänen und Kranichen eingesetzt werden. Wirkungslose Maßnahmen oder solche mit nur kurzfristiger Wirkung gibt es auch. Dazu gehören Vogelscheuchen aller Art (Abb. 2). Sie schaden weder den Vögeln noch helfen sie dem Landwirt, können aber in der Landschaft für sensible Menschen lästig werden, besonders wenn sie in Form von Knallapparaten Geräusch erzeugen.

Literatur
Balkenhol, B., H.-H. Bergmann, R. Hollländer und M. Stock (1984): Über den Einfluß von Gänsekot auf die Vegetation von Grünflächen. Ökol. Vögel 6: 223-247
Madsen, J., G. Cracknell & T. Fox (Eds., 1999): Goose populations of the western Palearctic. Wetlands Int. Publ., Wageningen and Kalö
Mooij, J.H. (1991): Hunting - a questionable method to regulate goose-damage. Ardea79: 219-224
Percival, S.M., Y. Halpin & D.C. Huston (1997): Managing the distribution of barnacle geese on Islay, Scotland, through deliberate human disturbance. Biol. Conserv. 82: 273-277
Ridder, K. (1999): Gänsejagd und ihre Auswirkungen. Staatsexamensarbeit Universität Osnabrück
Rutschke, E. (1987): Die Wildgänse Europas. Akademie Verlag, Berlin
Spilling, E. (1999): Optionen beim Umgang mit Gänseproblemen. Naturschutz und Landschaftsplanung 31: 244-246
Spilling, E., H.-H. Bergmann & M. Meier (1999): Truppgrößen bei weidenden Bläß- und Saatgänsen (Anser albifrons, A. fabalis) and der Unteren Mittelelbe und ihr Einfluß auf Fluchtdistanz und Zeitbudget. J. Ornithol. 140: 325-344

Verfasser: Prof. Dr. H.-H. Bergmann, Arbeitsgruppe Gänseforschung, Fachbereich Biologie, Universität Osnabrück. 
Weiterführende Links zum Thema
Weitere Informationen zum Thema Gänseökologie und Gänseforschung finden unter Gänse - Das Online Magazin
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