Erhalt und naturverträgliche Nutzung mariner Ökosysteme und Lebensgemeinschaften

Ergebnisse eines Infoseminars des NABU am 3. November 2004 in Berlin


Wenn von Meeresnaturschutz die Rede ist, dann denken viele zunächst einmal an weite Meereslandschaften, in denen die Welt noch in Ordnung scheint. Schweinswale und Robben, die vielen Meeresvögel und auch die Heerschar von Seeanemonen und Seeigeln sollten doch eigentlich - einmal abgesehen von gelegentlichen Tankerunfällen - noch unter fast natürlichen Bedingungen leben? Doch weit gefehlt! Die Meeresbiologen Petra Deimer von der Gesellschaft zum Schutz der Meeressäugetiere e.V., Dr. Onno Groß von Deepwave e.V. und Dr. Henning von Nordheim als Vertreter des Bundesamt für Naturschutz sowie der Umweltjurist Peter Kersand von der Universität Rostock machten "Erhalt und naturverträgliche Nutzung mariner Ökosysteme und Lebensgemeinschaften" am 3. November 2004 in Berlin auf einem Informationsseminar des NABU in Berlin deutlich, dass die Nord- und Ostsee ihre ökologische Unschuldigkeit längst verloren haben.

Meeresnaturschutz beginnt im Binnenland

Über die Flüsse werden Schadstoffe aus dem Binnenland eingespült, andere gelangen auf dem Luftweg ins Meerwasser. Doch damit nicht genug. Nord- und Ostsee sind mehr denn je zu einer Rohstoffquelle geworden. Die Übernutzung der Fischbestände durch nationale und internationale Fischereiflotten steht nach wie vor an der Tagesordnung. Gefangen werden zunehmend nur noch Jungfische. Etliche, früher häufige Fische kommen in den Fängen gar nicht mehr vor. Sie findet man nur noch auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten – dort allerdings ganz oben. Auch Arten, für die eigentlich Fangverbote gelten, geraten immer häufiger in die Fischernetze. Die Experten schätzen, dass jedes Jahr alleine rund 10.000 Schweinswale als Beifänge zu Tode kommen. Damit werden vermutlich mehr Exemplare dieses größten deutschen Meeressäugers gefangen als neugeboren. Eine Situation die, wenn sie nichts ändert, kurzfristig zur Ausrottung der Flipper-Verwandten führt. Doch selbst wenn das Schlimmste abgewendet werden kann, bleibt die Welt der Schweinswale in Unordnung. Die, die überleben, leiden an Stress. Der Unterwasserlärm von Schiffsdieseln, Bohrplattformen oder Windkraftanlagen breitet sich unter Wasser weiträumig aus und stellt eine zunehmend bedeutsame Gefahrenquelle für die geräuschempfindlichen und auf die Orientierung mit dem Gehör angewiesenen Zahnwale und Robben dar. Nur wenig Aufmerksamkeit schenkte man in der Vergangenheit auch den schweren und unter Umständen sogar tödlichen Verletzungen, die die großen Drei der deutschen Meere bei Kollisionen mit Schiffen bzw. bei Berührungen mit den Schiffsschrauben erleiden.

Mariner Bergbau - Arten- und Lebensraumgefährdung in einer neuen Dimension

In der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen werden die Folgen des marinen Bergbaus. Allein in der Nordsee tragen Saugbagger auf rund 41.000 Quadratkilometern regelmäßig bis zu 3 Meter starke Sand- und Kiesschichten vom Meeresbodens ab. Doch mit den toten Substraten landen auch Unmengen von Taschenkrebsen, Keulenseescheiden, Seenelken, Seeigeln, Pfauenwürmern, Aalmuttern, Kiesmuscheln, Schwimm- und Sandgrundeln oder der Blasentang in den Rümpfen der Saugbagger. Bei durchschnittlich rund 15.000 Organismen pro Quadratmeter Meeresboden, so der Meeresbiologe Onno Groß, wird die enorme Dimension dieser regelmäßig wiederkehrenden Eingriffe deutlich. Und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Beispielsweise wird eine Hamburger Firma 40 km westlich von Sylt jedes Jahr 1 Millionen Tonnen Sand und Kies fördern. In nächsten 50 Jahren wird allein in diesem Gebiet vor Sylt Meeresboden in einer Größe von 25.000 Fußballfeldern abgesaugt werden. Dass die betroffenen Sand- und Kiesbänke ihre Funktion als Nahrungs- und Aufwuchsgebiete für Fische oder als Nahrungshabitate für Meeresvögel kaum mehr erfüllen können, versteht sich fast von selbst. Viele fungieren zudem als wichtige unterseeische Trittsteine für wandernde Meeresbewohner. Und es braucht Jahre, meistens sogar Jahrzehnte, bis sich die Abbaugebiete von den Folgen des Kies- oder Sandabsaugung erholen. Vorausgesetzt, sie bekommen überhaupt Gelegenheit dazu.

Das es soweit kommen konnte, hat mehrere Gründe. In vollkommener Naivität werden die Meere nach wie vor als schier unerschöpfliche Rohstoffquellen betrachtet. Da sie von Menschen unbewohnt sind, gelten sie als Areale, die nahezu uneingeschränkt und ohne den Zwang zur Rücksichtnahme auf andere nutzbar sind. Nicht umsonst weichen Nutzungen, die im Binnenland an Akzeptanzgrenzen stoßen (z.B. Windkraft, Bodenabbau), in marine Bereiche aus. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass auch die Meeresgebiete und ihre Ressourcenpotenziale endlich sind. Wachsende Nutzungs- und Interessenkonflikte sind in der Nord- und Ostsee die Folge. Einmal mehr droht dabei die Natur auf der Strecke zu bleiben; denn Seeigel, Finten, Maifische oder Schweinswale sind in der Öffentlichkeit zu gut wie unbekannt. Und da sie keine Lobby haben, fällt es Nutzern im Wettstreit der Interessen besonders leicht, die Forderungen des Naturschutzes nach einer nachhaltigen wirtschaftlichen Nutzung und zur Bewahrung des marinen Naturerbes als überzogen abzustempeln.

Meeresnaturschutz - ein Fremdwort für Politik und Verwaltung?

Denn auch Politik, Justiz und Verwaltung zeichnen sich nicht gerade durch eine ausgewiesene Meeresfreundlichkeit aus. Für deutsche Juristen war Meeresnaturschutz lange Zeit ein Fremdwort, so der Rostocker Umweltjurist Peter Kersand. Erst in den neunziger Jahren rückten Rechtsfragen zum Naturschutz in der Nord- und Ostsee stärker in den Fokus. Selbst die Naturschutzverwaltungen von Bund und Ländern konzentrieren ihre Bemühungen bis heute fast ausschließlich auf Pflanzen, Tiere und ihre Lebensräume im Binnenland. Erst die Verpflichtung zur Umsetzung der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) und der damit Schutz mariner Lebensräume zwang zur Horizonterweiterung. Die Hoffnung, dass damit auch die Bereitschaft zum aktiven handeln verbunden wäre, scheint jedoch verfehlt. Zwar kümmert sich der Bund im Rahmen seiner Zuständigkeiten zunehmend intensiv um den Naturschutz in der AWZ und das Land Mecklenburg-Vorpommern novellierte sein Landesnaturschutzgesetz mit Blick auf die marinen Lebensgemeinschaften, doch ansonsten tut sich wenig positives. Dabei ist Meeresnaturschutz für Kersand weit mehr als nur eine Spielvariante spleeniger Naturschützer. Meeresnaturschutz ist eine verbindliche völkerrechtliche Verpflichtung zum Erhalt der unbelebten und belebten Meeresumwelt. So definieren beispielsweise die zwischen den Nord- und Ostseeanrainern vereinbarten Übereinkommen über den Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks (Oslo-Paris-Übereinkommen, OSPAR-Übereinkommen) sowie das Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets (Helsinki-Übereinkommen, HELCOM) Erhaltungs- und Schutzaufträge, die sich zudem nicht nur auf den unmittelbaren Bereich der nationalen Küstengewässer innerhalb der 12-Seemeilen-Zone beschränken, sondern ausdrücklich auch für die sich anschließende Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) gelten.

Umdenken erforderlich

Wenn es gelingen soll, die Lebensgemeinschaften und Lebensräume der Nord- und Ostsee auch für zukünftige Generationen zu erhalten, dann ist ein Umdenken in der Meerespolitik dringend erforderlich. Nicht Raubbau und grenzenlose Ausbeutung der Ressourcen dürfen das Handeln bestimmen. Vielmehr muss einer am Vorsorge- und Vermeidungsgrundsatz ausgerichteten Nutzung der absolute Vorrang eingeräumt werden. Doch Meeresnaturschutz beginnt nicht erst in der Kadettrinne oder vor Helgoland. Entscheidende Weichenstellungen müssen bereits in den Wassereinzugsgebieten der Meere getroffen werden. Der in den siebziger und achtziger Jahren verbreitete Slogan "Der Schutz der Nordsee beginnt im eigenen Haushalt!" hat nichts an Gültigkeit eingebüßt. Er muss lediglich um die Ostsee erweitert werden. Einer der ganz wesentlichen Knackpunkte betrifft die zum gegenwärtig Zeitpunkt alles andere als nachhaltige Fischerei. Hier bedarf es zunächst einmal der Harmonisierung der EU-Fischerei- und Naturschutzpolitik mit dem Ziel einer fischereiwirtschaftlichen Nutzung, die die Regenerations- und Reproduktionsfähigkeit der Fischpopulationen langfristig erhält und die fischereilichen Methoden dahingehend verfeinert, dass Beifänge zur Ausnahme und nicht mehr zum Alltag gehören.

Für Henning von Nordheim ist die Weiterentwicklung des NATURA-2000-Biotopverbundsystems in Nord- und Ostsee unter Einbeziehung von Schutzgebieten nach dem OSPAR- und HELKOM-Abkommen ebenso wichtig. Onno Groß plädiert darüber hinaus mit Blick auf den Meeresbergbau für die Ausweitung der im Binnenland bewährten Raumordnung auf die Meereslandschaften. Da jedoch die beste Planung ohne taugliche Planungskriterien wertlos erscheint, hält von Nordheim die Erstellung einer Roten Liste für den marinen Bereich für zwingend erforderlich. Sie bietet nicht nur bei Planungsvorhaben die notwendige Orientierung, sondern bildet auch die Grundlage für Artenschutz- und Artenhilfsprogramme; denn ohne derartige Maßnahmen werden Helgoländer Hummer, Störe, Finten, Kegelrobben in der Ostsee oder Schweinswale kaum eine Zukunft haben.

Ralf Schulte, NABU-Bundesgeschäftsstelle Berlin


Die Tagungsveranstaltung wurde vom Bundesamt für Naturschutz aus Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Die Veranstaltungsinhalte und -ergebnisse geben nicht unbedingt die Meinung des Bundesumweltministeriums, des Bundesamt für Naturschutz oder des Naturschutzbund Deutschland (NABU) wieder.